»Anmut ist trügerisch und Schönheit vergeht,
aber eine Frau, die den HERRN fürchtet,
die wird gelobt werden.«
Sprüche 31,30
Wenn du mir vor fünf Jahren gesagt hättest, dass ich eines Tages ein Buch für christliche Frauen schreiben und dieses mit einem Zitat aus Sprüche 31 einleiten würde, hätte ich es nie für möglich gehalten. Vermutlich wird kein Kapitel der Heiligen Schrift öfter verwendet, wenn es darum geht, Frauen anzusprechen. Aber ich bitte trotzdem um deine Aufmerksamkeit, auch wenn das Thema schon abgegriffen erscheint. Um dieses Thema anzugehen, denke ich, dass Sprüche 31,30 einen zweiten Blick wert ist – in Bezug auf das, was der Vers über Frauen aussagt, und mehr noch in Bezug auf das, was er über Gott aussagt.
Im Haus meiner Mutter hängen zwei kleine ovale Portraits von einem Mann und einer Frau aus dem späten 18. Jahrhundert. Es handelt sich um David und Nancy Coy aus Homer, New York, die Urgroßeltern der Urgroßmutter meiner Mutter. Wir nennen sie liebevoll »die Urahnen« – aufrichtige Bürger kongregationalistischer und presbyterianischer Abstammung, die mit ihrem Stirnrunzeln offenbar darauf bedacht waren, die Zivilisation vor dem Verfall zu bewahren. Aus ihrem starren Gesichtsausdruck schließe ich, dass sie es in ihrem Leben nicht leicht hatten. Vor allem Nancy wirkt wie eine Frau, die keinen Sinn für Humor hat. Hätte der Künstler seinen Bildradius etwas vergrößert und zusätzlich ihren Oberkörper gemalt, so hätten wir vermutlich gesehen, dass ihre Hände eine abgenutzte Ausgabe der King-James-Bibel mit eisernem Griff umklammerten. Ähnlich wie Portraits anderer Frauen aus jener Zeit, ist sie die Verkörperung des Bildes, das uns in den Sinn kommt, wenn wir den Ausdruck »gottesfürchtige Frau« hören. Jemanden heute so zu bezeichnen, könnte altmodisch klingen, vielleicht sogar ironisch; aber zu Nancys Zeiten wäre dies als hohes Lob angesehen worden, als direkter Verweis auf Sprüche 31,30.
Wollten wir heute eine Frau als gottesfürchtig rühmen, würden wir es vermutlich in etwa so ausdrücken: »Sie liebt Jesus so sehr«, oder: »Sie hat eine so tiefe Beziehung zum Herrn!« Das stereotype Portrait einer solchen Frau würde heute dem Foto einer Bildagentur mit Weichzeichner entsprechen, das eine glücklich lächelnde Frau mit ausgebreiteten Armen auf einer sonnendurchfluteten Wiese zeigt. Es ist keine schlechte Art, Gottesfurcht bildlich darzustellen, aber es ist eben ein ziemlicher Kontrast zu Nancy. Und ich frage mich – aus Respekt vor Nancy –, ob wir Frauen von heute nicht darüber nachdenken sollten, was aus unserer Vorstellung von einer »gottesfürchtigen Frau« geworden ist. Damit möchte ich nicht behaupten, dass Nancy eine bessere Version gekannt habe. Ich frage mich eher, ob eine zutreffendere Auffassung einer gottesfürchtigen Frau nicht irgendwo dazwischen liegt – zwischen einem feierlich-strengen Blick und einem zuckersüßen Lächeln.
An dieser Stelle möchte ich ein etwas weniger schockierendes Geständnis ablegen: Wenn ich einen Vers aus der Bibel wählen müsste, der mich am meisten beeinflusst hat, so wäre er nicht in Sprüche 31 zu finden. Es wäre Psalm 111,10. Ich stieß auf diesen Vers mit Anfang zwanzig. Zu dieser Zeit in meinem Leben verspürte ich das verzweifelte Bedürfnis, in meiner Weisheit wachsen zu müssen, hatte jedoch keine klare Vorstellung davon, wie ich damit beginnen könnte. Sollte ich Theologie studieren? Mir einen Mentor suchen? Die Heilige Schrift auswendig lernen? Mein Glaube war hauptsächlich von einem Gefühl geprägt – von meiner innigen Liebe zu Gott. Ich wusste aber, dass ich Weisheit darüber brauchte, wie ich diesem Gott, den ich zu lieben behauptete, nachfolgen konnte. Dann eines Tages las ich während meiner Stillen Zeit Psalm 111,10. Der Vers beantwortete meine Frage, wo und wie ich anfangen sollte, auf höchst unerwartete Weise:
»Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Weisheit.«
Ich musste den Vers mehrmals lesen, um ihn zu verinnerlichen. Die Weisheit, nach der ich mich sehnte, begann wo? Von allen möglichen Ursprüngen der Weisheit war die Furcht des Herrn keiner, auf den ich von allein gekommen wäre. Der Gott, mit dem ich in meiner Gemeinde aufgewachsen war, entsprach einem kuscheligen Papa, den ich mir ungefähr so wie meinen sanften und zutiefst liebevollen irdischen Vater vorstellte. Das Konzept der Gottesfurcht war mir völlig fremd. Wie konnte der Weg zur Weisheit mit der Furcht des Herrn beginnen? Während ich den Vers studierte, versuchten meine Augen immer wieder, das Wort Furcht durch das Wort Liebe zu verdrängen. Sollte nicht die Liebe zum Herrn der Anfang der Weisheit sein? Wie kann die Bibel einerseits sagen: »Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus« (1.Joh. 4,18), und andererseits behaupten, dass die Furcht des Herrn der erste Schritt zur Weisheit ist?
Meine Vorstellung von Gott war, dass Er ansprechbar und zugänglich sei, der Gott, der im Gebet, das Jesus Seine Jünger lehrte, liebevoll als »Unser Vater« bezeichnet wird. Und das ist Er auch. Er ist auf barmherzige und herrliche Weise dieser Vater. Aber was die Furcht des Herrn bestätigt, ist, dass Er nicht nur so ist. Er ist zudem »im Himmel«, mit einem Namen, der über allen anderen Namen geheiligt ist. Er ist sowohl ein Gott, der uns nahe ist, als auch ein Gott, der uns weit überragt. Wer den Herrn fürchtet, begreift die Tatsache, dass der Vater, den wir als »unseren Vater« anzurufen gelernt haben, auch der Herr des Universums ist, »der über den Cherubim thront« (2.Sam. 6,2) und unter den Völkern tut, was Ihm gefällt.
Nicht alle sind mit einem kuscheligen irdischen Vater aufgewachsen, geschweige denn mit dem Konzept eines zugänglichen, väterlichen Gottes im Himmel. Obwohl wir die Gnade der Errettung kennen, vermuten viele von uns immer noch, dass Gott (so wie Nancy) ständig missmutig und vorwurfsvoll in unsere Richtung blicke. Doch die Bibel zeigt uns das Bild eines Gottes, der weder finster dreinblickt noch uns verhätschelt – einen Gott, der beides in perfekter Balance ist: »Unser Vater« und gleichzeitig »im Himmel«. Um dieses Gleichgewicht zu finden, müssen wir eine brauchbare Definition dafür gewinnen, wie Psalm 111,10 das Wort Furcht versteht. Dafür können wir uns dem Hebräerbrief zuwenden.
Der Autor des Hebräerbriefs legt großen Wert darauf, zwischen der Furcht vor dem verzehrenden Zorn Gottes und der Furcht vor der Heiligkeit Gottes zu unterscheiden. Beides vermag uns zum Zittern zu bringen, aber nur die zweitgenannte Furcht veranlasst uns, anzubeten und Buße zu tun. Allein Christus haben wir es zu verdanken, dass wir nicht ängstlich niedergedrückt zu dem furchterregenden, von Donnerschall umgebenen Berg Sinai kommen müssen; stattdessen kommen wir erwartungsvoll zu dem herrlichen, zugänglichen Berg Zion (Hebr. 12,18-24). Wir werden ermahnt, auf diesen Gott zu reagieren, indem wir »die Gnade festhalten, durch die wir Gott auf wohlgefällige Weise dienen können mit Scheu und Ehrfurcht! Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer« (V. 28-29). Anbetungsvolle Scheu und Ehrfurcht, nicht ängstliches Zusammenkauern, definieren eine rechte Furcht des Herrn.
Anbetungsvolle Scheu und Ehrfurcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit.
Wenn wir den Herrn auf rechte Weise fürchten, dann tun wir das nicht als solche, die von schrecklicher Angst vor Ihm erfüllt sind. Christus, unser Mittler, versichert uns, dass wir uns dem Thron Gottes mit Zuversicht nahen dürfen. Wir zittern nicht, wie es die Dämonen tun; sie fürchten zu Recht den Zorn Gottes. Vielmehr zittern wir als solche, die verstehen, dass Gottes Zorn, der auf uns lag, am Kreuz gestillt wurde. Wenn wir Gott in rechter Weise fürchten, erkennen wir Ihn als das, was Er wirklich ist: ein grenzenloser Gott, der sich von allem und jedem unterscheidet, das wir kennen. Dies ist der Beginn davon, weise zu werden.
Aber man sollte auch die Kehrseite der Botschaft von Psalm 111,10 betrachten. Nicht nur ist die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit, sondern die Furcht vor Menschen ist der Anfang der Torheit. Dies ist der doppelte Mahnruf von Sprüche 31,30, den wir so dringend verstehen müssen:
»Anmut ist trügerisch und Schönheit
vergeht [die Furcht vor Menschen ist der Anfang
der Torheit], aber eine Frau, die den HERRN
fürchtet, die wird gelobt werden [die Furcht des
HERRN ist der Anfang der Weisheit].«
Wenn wir die Majestät Gottes aus den Augen verlieren, dann füllen wir die Lücke in unserem Blickfeld automatisch mit dem Märchen von der Größe irgendeiner anderen Person. Wir verehren den Ehepartner oder eine Führungsperson. Wir vergöttern unsere Kinder oder einen Freund. Wir erweisen sogar uns selbst Ehrfurcht und Bewunderung. Und das ist absolute Torheit. Es ist nicht nur unweise, jemand anderem als Gott unsere Verehrung entgegenzubringen, sondern es ist die eigentliche Definition von Unvernunft. Und es ist ein kräftezehrendes Unterfangen.
Mit diesem Buch hoffe ich nun das Bild der »gottesfürchtigen Frau« sowohl von den verblichenen Portraits in antiken ovalen Rahmen als auch aus den mit Schriftzügen verzierten Rahmen und mit Weichzeichner bearbeiteten Instagram-Fotos zurückzugewinnen. Auf den folgenden Seiten möchte ich mit dir die Majestät eines grenzenlosen Gottes betrachten. Ich möchte, dass wir über Seine vollkommenen Eigenschaften nachsinnen, damit sie für uns zum vernünftigsten Gegenstand unserer Scheu und Ehrfurcht werden. Und dabei möchte ich erreichen, dass wir unserer Neigung entgegenwirken, von anderen und auch von uns selbst zu fordern, etwas zu sein, was nur Gott ist.
Das Leben ist zu kurz und zu kostbar, um es damit zu verbringen, dass wir die falschen Dinge auf die falsche Art und Weise fürchten. Ich schlage vor, dass wir die heilige Furcht vor einem Gott lernen, der wie kein anderer ist. Nur dann wird unsere Menschenfurcht in die Flucht geschlagen, unsere Selbstbeweihräucherung zu Grabe getragen, und nur so werden unsere Herzen sich der Anbetung zuwenden. Ich möchte, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes gottesfürchtige Frauen werden, dass wir uns freudig am Fuße des Berges Zion aufstellen und unserem Vater im Himmel wahre Anbetung darbringen. Und indem wir dies tun, fangen wir an, weise zu werden.
Ein Auszug aus dem Buch:
Keiner ist wie Er
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- Warum ist es wichtig, Gottes Eigenschaften zu kennen?
- Warum ist es wichtig, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein?
- Wie gehe ich mit meinen Fehlern und Schwächen um?
Wir wurden mit unseren Grenzen geschaffen. Wir waren nie dazu bestimmt, so wie Gott zu sein. Aber die Wurzel jeder Sünde ist unser rebellischer Wunsch, Eigenschaften zu besitzen, die nur Gott gehören. Darin besteht oft die Ursache unserer Probleme.
Mit diesem Buch ermutigt Jen Wilkin uns Frauen, das Wesen Gottes tiefgehender zu erfassen, Ihn anzubeten und unsere Grenzen als Mittel zu erkennen, Seine grenzenlose Macht zu verherrlichen, indem wir Ihn allein Gott sein lassen. Wenn wir unsere menschlichen Fehler und Schwächen mit den Eigenschaften Gottes vergleichen, werden wir als Christen neu gestärkt durch die Gewissheit von Gottes Treue in Seinem unveränderlichen und allumfassenden Wesen. Diese Erkenntnis ermutigt uns, täglich neu Hoffnung bei Ihm zu suchen.