Der Knecht, der die Sünde trägt

5 Mai, 2023

Kategorie: Bücher, Erbauung

Bibelbuch: Jesaja

Der Knecht, der die Sünde trägt


»Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!« (Joh. 1,29).

Jesaja 53 beantwortet die lebenswichtigste Frage überhaupt, die irgendein gefallener Mensch je stellen kann: Wie kann ein Sünder vollständig mit Gott versöhnt werden? Das ist eine Frage, der letztendlich jedermann gegenübertreten muss. Die Frage stellt sich im Allgemeinen dann, wenn sich jemand unter dem Gewicht seiner eigenen Schuld abmüht, unter den Qualen der Konsequenzen der Sünde leidet oder den tiefgreifenden Kummer verspürt, der immer daraus folgt, wenn der Lohn der Sünde gezahlt wird. Hiob und seine Berater erhoben die Frage mehr als einmal während seiner Tortur. Hiob fragt: »Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?« (Hi. 9,2). »Wie könnte denn ein Reiner von einem Unreinen kommen?« (Hi. 14,4).

Später in dieser Geschichte wiederholt Bildad, einer der Berater Hiobs, die Aussage über das menschliche Dilemma: »Wie kann aber der Sterbliche gerecht sein vor Gott, und wie will der rein sein, der von der Frau geboren ist? Siehe, sogar der Mond leuchtet nicht hell, und die Sterne sind nicht rein in Seinen Augen – wie viel weniger der Sterbliche, die Made, und das Menschenkind, der Wurm!« (Hi. 25,4-6).

Niemand ist über dieses Dilemma erhaben. Niemand ist gerecht genug, um Gottes Gericht zu entkommen. Salomo schreibt: »Weil kein Mensch auf Erden so gerecht ist, dass er Gutes tut, ohne zu sündigen« (Pred. 7,20). Und der Apostel Paulus schrieb: »Es ist keiner gerecht, auch nicht einer« (Röm. 3,10). Und: »Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten« (Röm. 3,22-23). Beachte dies sorgfältig: Wenn die Schrift unser Gefallensein und die Universalität der Sünde erwähnt, dann geht es nie darum, die Schuld, die wir als Sünder tragen, zu entschuldigen (oder sie auch nur kleinzureden). Niemand sollte je denken: Ich bin doch gar nicht so schlecht. Es sündigt ja schließlich jeder. Doch wenn die Schrift von der Tatsache spricht, dass alle gesündigt haben, dann tut sie das immer, um die Wahrheit zu betonen, dass ohne einen Erretter die gesamte Menschheit rettungslos verloren wäre.

Die wahre, klare und zufriedenstellende Antwort auf Hiobs Dilemma ist in Jesaja 53 zu finden. Hier steht, wie Gott »den Gottlosen rechtfertigt« (Röm. 4,5). Hier steht, wie ein Mensch mit Gott ins Reine kommen kann, und wie Gott gerecht bleiben kann, während Er Sünder rechtfertigt (vgl. Röm. 3,26). »Durch Seine Erkenntnis wird Mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen, und ihre Sünden wird Er tragen« (Jes. 53,11).

Jede Lehre, die oft angefochten wird, aber für das Verständnis von der biblischen Lehre von der Versöhnung unabdingbar ist, ist hier enthalten: die Sühnung durch den Tod eines unschuldigen Opfers, Errettung durch Gnade, allein durch den Glauben, Rechtfertigung durch das Zurechnen von Gerechtigkeit und die Versöhnung durch stellvertretende Strafe.

In Jesaja 53 wird also nicht nur das Evangelium zusammengefasst, sondern auch eine klare und gründliche Auslegung davon gegeben. Jedermann, der Systematische Theologie studiert hat, wird sofort die verblüffende Tatsache erkennen, dass Jesajas Soteriologie (Heilslehre) identisch ist mit derjenigen von Paulus und den Aposteln.

Kein Wunder. Jesaja 53 ist das Evangelium, wie Gott es offenbart hat. Es ist weder Zufall noch eine Überraschung, dass dies dieselbe Botschaft ist, die auch im Neuen Testament von Jesus und den Aposteln verkündigt wurde. Denn es gibt nur ein wahres Evangelium (vgl. Gal. 1,8-9).

Gottes Perspektive auf das Werk des Knechtes

Ein faszinierender Aspekt dieses Textabschnitts ist der, dass alle Prinzipien des Evangeliums, die Jesaja hier höchst deutlich und nachdrücklich betont, Lehren sind, die häufig angegriffen werden – durch pseudochristliche Sekten, irrende und abgefallene Glaubensgemeinschaften, falsche Lehrer jeder Art und gewaltige religiöse Institutionen, deren Bindung an die eigene Tradition stärker ist als ihre Verpflichtung der Schrift gegenüber. Jesaja bestätigt hier unzweideutig die Lehren von der Rechtfertigung aus Glauben, der zugerechneten Gerechtigkeit, der stellvertretenden Sühnung und dem Tod des Messias als ein Opfer, das dargebracht wurde, um Jahwe zu versöhnen.

Diese Lehren sind genau dieselben Prinzipien, die die protestantischen Reformatoren wiederentdeckten, nachdem sie unter den jahrhundertelang aufgehäuften Irrtümern und erdrückenden kirchlichen Überlieferungen fast erstickt waren. Die Reformatoren entstaubten sie, erkannten ihre wahre Bedeutung und verkündigten sie als wichtige Wahrheiten des Evangeliums. Es sind dieselben Wahrheiten, die auch die Herzen der englischen und amerikanischen Puritaner entflammten. Es sind dieselben Lehren, die auch die geistlichen Erben der Puritaner verkündigten – Männer wie George Whitefield, Jonathan Edwards, Charles Spurgeon und andere. Wenn sie klar und furchtlos von Predigern verkündigt werden, die wirklich an die Autorität der Schrift glauben und sie verkündigen »als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort« (1.Thess. 2,13), dann sind diese Wahrheiten schon immer von Gott dafür gebraucht worden, Menschen zu Christus zu ziehen und ganze Gemeinschaften umzugestalten – und manchmal sogar, um eine gesamte Kultur zu reformieren.

In den letzten Jahren kamen einige der verstörendsten Angriffe auf jene Lehren von angeblich protestantischen Autoren, die mit der biblischen Gelehrsamkeit auf eine Weise umgehen, als sei es das Ziel, neue Blickrichtungen auf altbewährte Lehren zu erfinden, neue Auslegungen zentraler Bibelstellen zu entwickeln oder gar eine ganz neue Art von Christentum zu erfinden.

Doch keine ihrer Ideen ist wirklich neu. Seit den Zeiten der Apostel ist jeder wesentliche Aspekt der Evangeliumswahrheit unentwegt von der einen oder anderen Seite her angegriffen worden. In den meisten Briefen des Neuen Testaments werden lehrmäßige Irrtümer angesprochen, die eine Bedrohung für den Glauben und die geistliche Gesundheit der Gläubigen der frühen Gemeinde darstellten. Das klassische Beispiel dafür ist natürlich der Galaterbrief, den Paulus schrieb, um einen Irrtum, der sich in den Gemeinden Galatiens ausbreitete, zu korrigieren (und zu verdammen). Falsche Lehrer griffen das Prinzip des sola fide (allein aus Glauben) an – indem sie den Heidenchristen erzählten, dass der Glaube allein kein ausreichendes Mittel zur Rechtfertigung sei. Die falschen Lehrer in Galatien sagten, dass die Neubekehrten aus den Heiden sich zuerst beschneiden lassen müssten.

Andere verbreiten sogar heute noch einen ähnlichen Irrtum, indem sie sagen, die Taufe sei die Neugeburt, von der Jesus in Johannes 3 sprach. Sie behaupten, die Menschen könnten nicht errettet sein, wenn sie nicht getauft seien. Und so wird klammheimlich die Taufe – ein Werk, das verrichtet werden muss – als Bedingung für den Zugang zum Leben als Christ, unterschwellig dem Glauben hinzugefügt. Eine andere aktuell weitverbreitete Sichtweise ist der Gedanke, dass Rechtfertigung ein Prozess sei, der erst dann vollendet sei, wenn Gott im Jüngsten Gericht den Gläubigen für gerecht erklärt. Da meint man ständig, dass das Gerichtsurteil (mindestens teilweise) von den guten Werken abhängen werde, die derjenige getan habe, über den gerichtet wird.

All solche Sichtweisen zerstören die Wahrheit, dass Gläubige hier und jetzt (und nicht irgendwann in der Zukunft) »aus Gnade errettet [sind] durch den Glauben, und das nicht aus euch – Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme« (Eph. 2,8-9). Jesus sagt: »Wer Mein Wort hört und Dem glaubt, der Mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tod zum Leben hindurchgedrungen« (Joh. 5,24). Hier sind die Verbformen von entscheidender Bedeutung. Die Person, die glaubt, »hat ewiges Leben«, als jetzt schon vorhandenes Besitztum. Und es hat sich bereits in der Vergangenheit verwirklicht, dass eine solche Person »vom Tod zum Leben hindurchgedrungen [ist]«.

Die Schrift steckt voller Aussagen, die all diese angefochtenen Wahrheiten des Evangeliums bestätigen. »Wer an [Jesus] glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet« (Joh. 3,18). »So sind auch wir an Christus Jesus gläubig geworden, damit wir aus dem Glauben an Christus gerechtfertigt würden und nicht aus Werken des Gesetzes, weil aus Werken des Gesetzes kein Fleisch gerechtfertigt wird« (Gal. 2,16). »Wer dagegen keine Werke verrichtet, sondern an Den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet« (Röm. 4,5). »… da hat Er uns – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten, sondern aufgrund Seiner Barmherzigkeit – errettet« (Tit. 3,5). »Wenn aber aus Gnade, so ist es nicht mehr um der Werke willen; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade« (Röm. 11,6).

Die Lehren von der stellvertretenden Bestrafung, der Sühnung durch das Blut und dem Sühnopfer werden auch durch den übrigen Teil der Schrift bestätigt. Eine Reihe bedeutender Texte macht darüber hinaus deutlich, dass es Gott Selbst war, der angeordnet hat, dass Christus für die Sünde sterben solle – und Ihn dann am Kreuz bestrafte (Lk. 24,44-46; Apg. 2,23-24; 4,26-28; Röm. 8,32; 1.Joh. 4,10). »Gott aber hat das, was Er durch den Mund aller Seiner Propheten zuvor verkündigte, dass nämlich der Christus leiden müsse, auf diese Weise erfüllt« (Apg. 3,18).

Doch noch bevor irgendwas vom Neuen Testament geschrieben worden war, hatte Jesaja 53 schon all jene Wahrheiten in Gottes eigenen Worten – und in der schlichtesten Sprache – bestätigt. Einen Vers weiter, nachdem Jesaja schreibt: »Aber dem HERRN gefiel es, Ihn zu zerschlagen; Er ließ Ihn leiden« (Jes. 53,10), spricht der Herr Selbst: »Durch Seine Erkenntnis wird Mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen, und ihre Sünden wird Er tragen« (V. 11).

Diese Aussage ist jeder Religion entgegengesetzt, die je vom menschlichen Verstand ausgedacht wurde. Anstatt den Menschen Anweisungen zu geben, wie sie sich selbst verbessern könnten, um sich die göttliche Gunst zu erwerben, ins Nirwana zu gelangen, Erleuchtung zu gewinnen oder was auch immer, kündigt das Evangelium gemäß Gottes Offenbarung an, dass Jahwes Knecht, der Messias Israels – der Herr der Gemeinde – alles Notwendige tut, um Sünder zu rechtfertigen. Gott stuft sie als gerecht ein, weil Sein Knecht ihre Sünde getragen hat. »Nachdem Seine Seele Mühsal erlitten hat«, sind diese Sünden gesühnt.

Man beachte übrigens, wie sehr dies vielen populären, menschenzentrierten Evangelisationsmethoden zuwiderläuft, die heute in den Gemeinden so weit verbreitet sind. Dieses Evangelium ist kein Aufruf an die Sünder, in Gott ihre Zufriedenheit zu finden, sondern es ist die Mitteilung, dass Gott zufriedengestellt ist durch das, was Sein Knecht um der Sünder willen getan hat.

Meine aufrichtige Hoffnung ist, dass du, lieber Leser, die Wahrheit erkennst – und dass du in deinem eigenen, demütigen Bekenntnis die Botschaft von Jesaja 53 nachklingen lässt. In der ganzen Schrift gibt es keine entlastendere Wahrheit als diese: »Fürwahr, Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen … Er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen; die Strafe lag auf Ihm, damit wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilt worden« (Jes. 53,4-5).


Ein Auszug aus dem Buch: 

Das kraftvolle Evangelium (Band 2)
Wie Gott es offenbart hat

Die Prophetie über den leidenden Knecht in Jesaja 53 wird oft als eines der großartigsten Kapitel der Bibel bezeichnet. Es sagt die Kreuzigung Jesu voraus, das zentrale Ereignis in Gottes vollkommenem Plan, Sein Volk zu erlösen.

John MacArthur zieht wichtige Verbindungslinien von der Geschichte Israels zum Neuen Testament – und wir erfahren, wie diese uralte Prophetie uns ein Verständnis für wichtige Wahrheiten schenkt, die unser heutiges Leben prägen.

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Der Knecht, der die Sünde trägt

von Verena Penner Lesezeit: 8 min