»Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?« (Hi. 9,2). Die Antwort auf genau diese Frage, die Hiob stellte, finden wir im Evangelium. Auch wir müssen uns fragen: Wie können wir vor Gott gerecht sein? Je gründlicher wir über diese Frage nachdenken, desto stärker schmecken wir die Bitterkeit der Sünde und der Verzweiflung des Menschen. Ist es einem Sünder wirklich möglich, Gottes Wohlgefallen zu erlangen – und wenn ja, wie?
Welchen Evangeliumstext auch immer wir lesen, es taucht dieselbe Frage auf. Tatsächlich ist es unmöglich, das Evangelium überhaupt zu verstehen, ohne zunächst über das Dilemma der menschlichen Verdorbenheit nachzudenken – und sich unumwunden alle scheinbar unüberwindlichen Hindernisse einzugestehen, die die Sünde zwischen Gott und den Sünder stellt. Hiobs Frage ruft uns mehrere Fragen in Erinnerung, die damit zusammenhängen. Bitte höre jetzt nicht auf zu lesen, nur weil du vielleicht den Eindruck hast, dass wir hier vertrautes Gebiet betreten.
Dies sind Fragen, denen sich jede empfindungsfähige Person unvermeidlich stellen muss: Wenn wir alle vor Gott schuldig sind und für unsere Sünde keine Entschuldigung haben, wie kann dann überhaupt jemand im Gericht bestehen? Wenn Werke der Gerechtigkeit unsere bösen Taten nicht sühnen können, wie kann dann ein Sünder je aus der Schuld und Gebundenheit der Sünde gerettet werden? Wenn Gott absolute Vollkommenheit verlangt und wir bereits unwiderruflich unvollkommen sind, welche Hoffnung gibt es dann für uns? Wenn die göttliche Gerechtigkeit absolut verlangt, dass der Lohn der Sünde in voller Höhe bezahlt wird, wie kann Gott dann überhaupt einen Sünder rechtfertigen, ohne Seine eigene Integrität zu verletzen? In der Tat sagt Er ausdrücklich, dass Er keinen Gottlosen gerecht spricht (2.Mo. 23,7). Heißt das dann, dass unser Schicksal bereits besiegelt ist? Wie kann ein gerechter Gott die Ungerechten rechtfertigen?
Die Antworten, die das Evangelium auf diese Fragen bietet, lauten entschieden anders als die aus der breiten öffentlichen Meinung. Jedes Glaubenssystem, das je ein menschlicher Verstand ersonnen hat, beantwortet diese entscheidenden Fragen falsch. Auf irgendeine Weise lehren alle Religionen dieser Welt (und übrigens auch alle großen politischen Ideologien und Gesellschaftstheorien), dass die Menschen über irgendeine Art des Verdienstsystems ihre eigene Gerechtigkeit verdienen müssen. Die Mittel und Wege zu diesem Ziel sind so unterschiedlich wie die vielen Gottheiten im Pantheon dieser Welt. Manche betonen Riten und Rituale, andere Selbstverleugnung und Askese. In der postmodernen westlichen Welt erfinden die Menschen einfach eine Fantasiegottheit, der Sünde nicht viel ausmacht – in der Annahme, dass ihnen ihre »guten« Taten im Gericht angerechnet und ihre Sünden einfach übersehen werden. Doch im anderen Extrem gibt es eine große Zahl Menschen, die den Dschihad oder irgendeinen anderen haarsträubenden Ausdruck von religiösem Eifer propagieren.
Im Alten Testament kam es manchmal vor, dass Menschen als Opfer für den Moloch ihre Babys bei lebendigem Leib ins Feuer warfen, weil sie dachten, dass sie dadurch die Gunst einer wütenden, unbarmherzigen Gottheit gewinnen könnten. Doch falls du meinst, dass solche herzlosen, eigensüchtigen Scheußlichkeiten längst der Vergangenheit angehören, dann bedenke, dass heute sehr viele Menschen rein aus Gründen der political correctness aktiv für das Recht auf Abtreibung (die absichtliche Tötung ungeborener Kinder) eintreten. Sie wollen unbedingt in den Augen der Welt als »gerecht« erscheinen.
All das ist die Frucht eines unerbittlichen Triebs, der in jedem gefallenen menschlichen Herzen lauert: das sündige Bedürfnis, sich selbst zu rechtfertigen. Von Natur aus haben alle Sünder den verdorbenen, aber starken Impuls, auf sich selbst zu vertrauen, dass sie gerecht seien (vgl. Lk. 18,9). Selbst die dogmatischsten Säkularisten verspüren das Bedürfnis, im Recht zu sein. So reden sie sich gewöhnlich ein, dass intensives soziales Engagement praktisch jedes Übel sühnen könne. Oder sie propagieren die Rechte der Tiere, die Umverteilung von Gütern oder eine andere »progressive« Auffassung von Gutsein. Alle diese Ansätze (antike Religionen ebenso wie moderne Ideologien) liegen auf fatale Weise falsch. Sie alle gehen von derselben grundlegend falschen Annahme aus – dem törichten Glauben, dass man als Mensch selbstständig einen gerechten Stand erreichen könne (und müsse).
Das ist die schlimmste aller Lügen, die die Menschen sich einreden. Es ist sogar eine uns auf ewig verdammende Täuschung, wir könnten uns auf irgendeine Weise unsere eigene Gerechtigkeit verdienen. Eine der sonnenklarsten Lehren der Bibel ist die, dass niemand aus eigener Kraft Gottes Gunst gewinnen kann – am allerwenigsten diejenigen, die sich selbst für gerecht halten. Tatsächlich sagt Paulus, dass genau das der Grund sei, weshalb so viele seiner Landsleute im Unglauben und unter dem Verdammungsurteil Gottes bleiben: »weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen und ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten trachten …« (Röm. 10,3).
Es gibt einfach keinen Weg, auf dem gefallene Menschen sich selbst aus der Gebundenheit und Schuld der Sünde befreien können, geschweige denn aus dem Missfallen eines heiligen Gottes – des Einen, gegen den sie gesündigt haben. Wer anderer Ansicht ist, macht sich einer arroganten Überheblichkeit schuldig. Eine solche Anmaßung verstärkt ihr Verdammungsurteil nur noch. Ob man es sich nun ehrlich eingestehen mag oder nicht: Unser Elend ist finster, trostlos und verzweifelt. Keine menschliche Religion bietet eine gute Antwort darauf. Selbst das inspirierte Gesetz Gottes hat keine Kraft, Sünder zu erlösen. Es offenbart lediglich ihre Sünde und verurteilt sie dafür. Das ist genau das, was Paulus’ universalen Schuldspruch so niederschmetternd macht: »… weil aus Werken des Gesetzes kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt werden kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« (Röm. 3,20).
Dieser Vers ist der Höhepunkt in Paulus’ gesamter Abhandlung über die zerstörerischen Auswirkungen der Sünde. Er hat seine Leser an einen Punkt geführt, an dem sie dieselbe drängende Frage stellen sollten, die schon Hiob immer wieder gestellt hat.
Ein Auszug aus dem Buch:
Das kraftvolle Evangelium (Band 1)
Der Bibelausleger und Lehrer John MacArthur legt mit diesem Buch eine erhellende Studie darüber vor, was der Apostel Paulus tatsächlich über die Frohe Botschaft von Jesus Christus gelehrt hat.
In seinen Briefen an die ersten Gemeinden hat der Apostel Paulus eine Reihe sehr markanter, präziser Textpassagen verfasst, die die Evangeliumsbotschaft in nur wenigen treffenden Worten zusammenfassen. Jeder dieser Schlüsseltexte hat seinen eigenen Schwerpunkt und betont einen bestimmten wesentlichen Aspekt der Frohen Botschaft. In den einzelnen Kapiteln dieses aufschlussreichen neuen Buches werden diese grundlegenden Texte zum Evangelium Vers für Vers untersucht.