Was ist die treibende Kraft zur Missionsarbeit?

16 Oktober, 2021

Kategorie: Erbauung

Was ist die treibende Kraft zur Missionsarbeit?


Entspricht unsere Vorstellung von Mission und Evangelisationsbemühungen dem biblischen Maßstab?

Ein erfahrener alter Missionar sagte einmal: »Die schlichte Notwendigkeit des Dienstes wird niemanden auf dem Missionsfeld halten, weil die meisten Menschen nicht auf uns hören werden; sie werden uns von sich stoßen.« Diese Worte sind wirklich wahr. Was dieser Missionar sagte, stimmt mit dem überein, was andere Missionare uns erzählten, aber auch mit dem, was wir selbst oft erfahren haben. Die Not ist auf vielen Gebieten überwältigend. Aber gerade diese Tatsache kann eine Quelle der Frustration sein. Die Aufgabe scheint so groß und der Missionar so klein zu sein. Wenn es offensichtlich ist, dass die Menschen das Evangelium von sich stoßen, weil sie es nicht haben wollen – was bleibt uns dann noch übrig? Die Antwort auf diese Frage ist der Schlüssel dazu, ob ein Missionar weitermacht oder aufgibt. 

 

Warum bin ich ein Mitarbeiter im Reich Gottes?

Vor Kurzem sprach ich mit meinem Freund Omar, der Missionar in Afghanistan war. Ich fragte ihn, warum er so viele Jahre in Afghanistan ausgeharrt hatte. Ohne Zögern antwortete er: »Der Befehl Gottes. Wäre es nicht Sein Befehl gewesen, wäre ich nicht dort hingegangen.« Manche mögen denken, diese Antwort klinge kalt und hart. Doch hätten ihn menschliche Bedürfnisse oder »Abenteuerlust« zum Missionsdienst in Afghanistan getrieben, hätte nichts davon ihn auf seinem Posten halten können. Was ihn hielt, war die Gewissheit von Gottes Befehl und Führung. Und er ist nicht der einzige mit dieser Antwort. Unzählige andere würden das Gleiche sagen. Warum bin ich ein Mitarbeiter im Reich Gottes? Die Antwort ist: »Ich gehöre nicht mir selbst. Ich gehöre einem Anderen. Ich gehöre meinem Herrn, der mich errettet hat, damit ich Seine Befehle befolge!«

 

Was spornt uns an?

Hier müssen wir über einen offensichtlich wesentlichen Punkt nachdenken. Der Ausdruck »Gottes Befehl« besteht aus zwei Worten. Es ist nicht nötig zu betonen, dass das wichtigste Wort »Gott« ist. Das Wort »Befehl« hat seinen Platz, aber Gott steht an erster Stelle. Es ist Sein Befehl; das ist wesentlich. Kommen wir noch einmal auf den Missionar in Afghanistan zurück, um zu sehen, was das bedeutet.

Angenommen, jemand hätte versucht, diesen Bruder auf das Missionsfeld zu schicken. Wäre er gegangen? Sehr wahrscheinlich nicht! Man hätte ihn ja mit gebieterischer Stimme und Autorität dazu drängen können. Hätte er sich dann wohl verpflichtet, in jenes Land zu gehen? Wenn er es daraufhin getan hätte, könnten manche sagen: »Stellen Sie sich das vor: Er hat sich bewegen lassen, auf den Befehl jenes Mannes zu hören!« Aber auch bloße Bibelstellen, wie Matthäus 28,19 und Markus 16,15 oder noch andere, hätten nicht ausgereicht, um Omar zum Gehen zu bewegen. 

Hinter der Formulierung »Gottes Befehl« verbirgt sich etwas entscheidend Wichtiges, nämlich der Charakter Gottes. Warum sollten wir Gottes Befehl gehorchen? Nun, weil es darum geht, wer Gott ist und was Er ist! Was wir von Gott erkennen, das macht Seinen Befehl bedeutender als alle menschlichen Worte. Unsere Sicht von Gott – was wir unsere Gotteserkenntnis nennen könnten – erklärt vieles in unserem Leben. Insbesondere wird dadurch sichtbar, wie wir auf Gottes Befehle reagieren. Wenn wir Ihn nicht nur als unseren Erretter, sondern auch als unseren Herrn erkennen, werden wir entsprechend handeln. Wenn wir Ihn aber nur als einen passiven Beobachter unseres Lebens ansehen, dann werden wir auch entsprechend dieser Sicht handeln.

Aber angenommen, wir würden den göttlichen Befehl nicht kennen. Was könnte uns dann dazu bewegen, das Evangelium bis an die Enden der Erde zu tragen? Vielleicht die Erkenntnis, dass die Menschen das Evangelium brauchen, weil sie ohne das Evangelium verloren gehen. Doch wenn uns auch dieser Aspekt nicht dazu bewegen würde, gäbe es dann noch einen anderen Grund, das Evangelium allen Völkern zu bringen? Gibt es etwas, was wir von oder über Gott wissen, das uns zur Missionsarbeit anspornen könnte?

Ganz gewiss! Es gibt keinen größeren Ansporn zur Missionsarbeit als dieser: Gott ist es wert, als Derjenige erkannt und verkündigt zu werden, der Er wirklich ist! Diese Tatsache ist ein wichtiger Teil des Beweggrundes, die frohe Botschaft in die ganze Welt hinauszutragen. Nun ist es so, dass diese Tatsache oft hinter vielerlei Missionsarbeit zurückgeblieben ist. Die Tatsache, dass Gott es wert ist, als Der erkannt und verkündet zu werden, der Er wirklich ist, hat schon viele Prediger und Missionare zu ihrem Dienst bewegt. Doch für viele Prediger, Missionare und Sonntagsschullehrer ist diese Tatsache eher etwas Nebensächliches. Wir müssen uns fragen, ob es bei all unseren Missions- und Evangelisationsbemühungen wirklich darum geht, dass Gott in dieser Welt als Der erkannt und verkündigt wird, der Er wirklich ist. Dieses Grundprinzip zu erkennen, ist von großer Bedeutung für alle Christen, wenn uns die biblische Missions- und Evangelisationsarbeit am Herzen liegt.

 

Zwei Perspektiven

Vor vielen Jahren predigte ein Missionar in einem fremden Land, als ihn ein Zuhörer unterbrach. »Das ist eine gute Geschichte«, sagte er, »aber ich habe eine Frage: Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, warum habe ich dann noch nie davon gehört? Warum hat mein Vater diese Botschaft nie gehört, und auch mein Großvater vor ihm? Wenn es wahr wäre, hätte es sicher jemand schon lange vorher meinem Volk erzählt.« Der Missionar war zunächst um eine Antwort verlegen. Schließlich sagte er: »Der Herr Jesus hinterließ Seiner Gemeinde den Befehl, Seine Botschaft überall zu verbreiten; aber die Gemeinde war sehr träge in der Befolgung Seines Befehls. Sie wissen, wie die Menschen sind; sie tun nicht immer, was man ihnen sagt.« Und damit fuhr der Missionar mit seiner Predigt fort. Aber als er zum Heimaturlaub nach Hause kam, fragte er verschiedene Gemeinden: »Wie hätten Sie auf diese Frage geantwortet?« Und die Zuhörer wussten keine Antwort, sondern schauten alle beschämt zu Boden. Sicher würde es manchen von uns auch so ergehen. Als wir 2015 in China waren, stellte uns ein junger Mann dieselbe Frage; auch einige afrikanische Flüchtlinge konfrontierten uns im Laufe der Jahre damit. 

Vielleicht wurden Ihnen auch schon solche Fragen gestellt. Die Details ändern sich, weil die gleiche Frage von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten aufgeworfen wurde. Doch was sollen wir antworten? Fragen wir uns doch einmal selbst: Das Evangelium ist schon so lange in der Welt; warum gibt es dennoch so viele Menschen, die es noch nie gehört haben? Wir könnten noch mehr Fragen dazu stellen, und es sind berechtigte Fragen; doch wo finden wir die richtigen Antworten darauf?

Schauen wir uns dazu kurz das Leben des bekannten Missionars William Carey an. Carey wird, wie viele wissen, als der Vater der modernen Mission1 angesehen. Er ging 1793 nach Indien. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens damit, zu predigen, zu beten, das Neue Testament in viele Sprachen zu übersetzen und es zu drucken. Carey arbeitete sehr viel und unermüdlich. Er opferte wirklich sein ganzes Leben, damit die Menschen von einem Gott hören könnten, der diese Welt souverän regiert und allen Menschen überall gebietet, Buße zu tun. 1834 rief der Herr Seinen Diener zu sich. Es wird gesagt, dass die von Carey geführte Buchdruckerei »die Bibel mehr als dreihundert Millionen Menschen zugänglich machte«.

Aber sein Dienst war anfangs wenig erfolgreich. Stattdessen gab es viel Widerstand – jene Art von Widerstand, die der natürliche Mensch dem Evangelium immer entgegensetzt. Dazu kamen auch viele innere Kämpfe, wie beispielsweise die folgenden Zeilen von Carey erahnen lassen: »Ich bin vielleicht das unnützeste Geschöpf, das je die Gnade Christi besessen hat. Ich bin nicht einer von jenen Männern, die stark sind und Großes unternehmen. Ich befürchte, ich könnte der Mission Schande bereiten.« Als der bekannte Gottesmann John Newton von seiner Mutlosigkeit hörte, schrieb er ihm in kurzen Zeilen: »Ich weiß, dass Gott schwache Werkzeuge verwenden kann; aber ich frage mich oft, ob es Ihm zur Ehre gereichen würde, durch Menschen wie mich zu wirken. Es könnte so aussehen, als ob Gott Trägheit guthieße, wenn ich offenkundigen Segen erfahren sollte.«

Ob Segen fließen würde oder nicht, Carey war entschlossen, im Werk des Herrn zu wirken und für Ihn zu sterben. Er schrieb: »Möge ich brauchbar dazu sein, um den Grund zur Gemeinde Christi in Indien zu legen. Ich begehre keinen größeren Lohn, noch kann ich höhere Ehre empfangen. Ein Werk, das Gott in Seine Hand genommen hat, wird unweigerlich gedeihen. Christus hat begonnen, diese alte und starke Festung zu belagern, und Er wird sie auch einnehmen. Es ist nicht Seine Art, ein Werk zu lassen, das Er begonnen hat.«

Ein weiteres Beispiel aus seinem Leben kann uns eine grundlegende Sicht auf die rechte Art von Missionsarbeit geben. Schon sieben Jahre lang predigten William Carey und seine Mitarbeiter in bengalischer Sprache und verbreiteten in dieser die erste Auflage des NT, ohne dass ein einziger Mensch an Jesus Christus gläubig wurde. 1797 kam Carey eines Tages mit einem Brahmanen2 ins Gespräch. Dieser heidnische indische Priester verteidigte seine Götzenanbetung energisch. Daraufhin zitierte Carey Apostelgeschichte 14,16: »Er ließ in den vergangenen Generationen alle Heiden ihre eigenen Wege gehen« und 17,30: »Nun hat zwar Gott über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen, jetzt aber gebietet Er allen Menschen überall, Buße zu tun«. 

Doch der Brahmane glaubte der Botschaft des Missionars nicht. In schärferen Worten brachte er denselben Einwand, von dem wir bereits sprachen: »Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, hätte ich dann nicht schon früher davon gehört?« Hier nimmt die Geschichte jedoch eine neue Wendung. William Carey wurde nicht verlegen. Er machte auch keinen Rückzieher. Stattdessen startete er einen Gegenangriff. Er versicherte dem Brahmanen, dass Gott sich niemals eine Ungerechtigkeit zuschulden kommen lässt. Seine Antwort sollte uns zum Nachdenken bringen:

»Angenommen, ein Königreich wäre für lange Zeit von Feinden seines wahren Königs erobert worden; er besäße zwar genügend Macht, um es zurückzuerobern, aber er würde die Feinde dennoch siegen lassen und sich so weit etablieren lassen, wie sie es sich nur wünschten. Wäre dann nicht der Mut und die Weisheit dieses Königs bei der Bekämpfung jener Feinde weitaus größer, als wenn er sich ihnen gleich widersetzt und ihre Einreise in das Land verhindert hätte? Durch die Verbreitung des Lichtes der frohen Botschaft werden die Weisheit, Macht und Gnade Gottes bei der Überwindung solch tief verwurzelter Götzenanbetung und bei der Zerstörung all jener Finsternis und Laster, die in diesem Land so universell vorherrschen, deutlicher hervortreten, als es der Fall gewesen wäre, wenn nicht alle die Not erlitten hätten, in so vielen vergangenen Zeitaltern auf ihren eigenen Wegen zu wandeln.«

Hier ist eine Antwort, die viele wahrscheinlich bisher noch nicht gehört haben! Was bedeutet dies? Carey erklärt kurz zweierlei: »Erstens: Für eine bestimmte Zeit gefiel es Gott, das Evangelium von Indien zurückzuhalten. Und zweitens: Gott hatte Seine Gründe dafür.«

Es geschah zu Seiner eigenen Ehre, dass Indien tief in der Korruption versinken konnte. Seine Rettung würde dadurch also in den Augen von Menschen und Engeln heller aufleuchten. Auf diese Weise würde Gott danach die Größe Seiner Weisheit, Macht und Gnade zeigen.

Wir wissen nicht, wie der Brahmane auf diese Antwort reagiert hat. Vielleicht hat er sich darüber geärgert oder den Missionar verspottet. Doch aus der Sicht eines Rebellen gegen Gott würden weder Careys Antwort noch die Antwort jenes anderen Missionars viel Sinn ergeben.

Welche Antwort wäre die richtige gewesen, die von Carey oder von dem anderen Missionar? Welche Antwort gibt die biblische Sicht Gottes wieder? Bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage können wir die missionarische Sicht vielleicht neu erkennen, die Gott uns in diesen Tagen zu vermitteln beabsichtigt. Welche dieser Antworten ist wahr, und welche ist falsch? Es gibt wichtige Unterschiede zwischen diesen beiden Antworten. Dennoch können wir nicht sagen, dass die eine wahr und die andere falsch sei. Beide Antworten betrachten das Problem auf unterschiedliche Weise. Es ist wichtig, dass wir uns etwas tiefere Gedanken darüber machen, was das bedeutet.

 

Die erste Antwort

»Der Herr Jesus hinterließ Seiner Gemeinde den Befehl, Seine Botschaft überall zu verbreiten. Aber die Gemeinde war sehr träge in der Befolgung Seines Befehls. Sie wissen, wie die Menschen sind; sie tun nicht immer das, was man ihnen sagt.« Hier ist eine Standardantwort auf die Frage der Heiden: »Warum haben wir nicht schon früher davon gehört?«

Sicherlich ist diese Antwort wahr. Die Bibel gibt uns unmissverständlich den Befehl, allen Menschen das Evangelium zu bringen. Dennoch waren wir träge im Erfüllen des Missionsbefehls. Selbst jetzt, in so später Stunde der Weltgeschichte, ist er noch nicht vollständig erfüllt worden. Man könnte sogar meinen, der Herr habe uns nie beauftragt: »Ihr werdet Meine Zeugen sein … bis an das Ende der Erde!« (Apg. 1,8). Sagte Er nicht: »So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker« (Mt. 28,19)? Warum leben dann noch so viele in der Finsternis, ohne einen Strahl der Hoffnung, ohne das Licht des Evangeliums? Jesus fragte einmal Seine Jünger: »Was nennt ihr Mich aber ›Herr, Herr‹ und tut nicht, was Ich sage?« (Lk. 6,46). Gilt diese Frage auch uns heute? »Warum habt ihr Mein Evangelium nicht zu allen Menschen gebracht?« Sicher hat der Herr einen guten Grund, uns dies zu fragen. Wir für unseren Teil scheinen keine angemessene Antwort zu haben. Oder was würden Sie antworten?

Man könnte meinen, wir würden uns jetzt endlich beschämt zu unserer Aufgabe hinreißen lassen. Bedeuten uns die Gebote unseres Herrn so wenig? Sind wir Ihm gegenüber so gleichgültig? Oder wenn uns schon nicht Scham bewegt, kann uns dann nicht das Mitleid mit jenen bewegen, die das Evangelium noch nicht gehört haben? Sind wir denn völlig unbekümmert bezüglich der verlorenen Welt? Können wir beim Lesen einer rührenden Geschichte weinen – und dennoch im Anblick der verlorenen Menschen mit trockenen Augen ruhig sitzen bleiben? Solche Fragen beschämen uns, nicht wahr? 

Aber wir wissen, dass Scham allein uns nicht dazu bewegen wird, dem Herrn zu gehorchen. Wir werden ein größeres Motiv als unsere eigene Demütigung brauchen, um zur Missionsarbeit angespornt zu werden. Selbst die geistliche Not der Ungläubigen wird nicht dazu ausreichen. Wir brauchen eine größere Sichtweise vom Charakter Gottes. Und das bringt uns zu der zweiten Antwort, die wir gehört haben, nämlich die Antwort von William Carey.

 

Die zweite Antwort 

William Carey sagte: »Erstens: Für eine bestimmte Zeit gefiel es Gott, das Evangelium von Indien zurückzuhalten. Und zweitens: Gott hatte Seine Gründe dafür.«

Dies ist eine verblüffende Antwort. Für manche ist sie wahrscheinlich sogar schockierend. Versuchen wir es aber zu verstehen. Oder, besser noch, lassen Sie uns die Gründe verstehen, warum Carey dies gesagt hat. Ich denke, wir verstehen seine Antwort gut genug, und wir können sie nachvollziehen. Denn wir wissen, was sie bedeutet, und gerade deshalb überrascht und schockiert sie uns.

Um biblische Missions- und Evangelisationsarbeit in der Tiefe zu verstehen, müssen wir uns über zwei wichtige Lehren der Bibel Gedanken machen: Die Verantwortung des Menschen, und: Die Souveränität Gottes. Diese Lehren sind für uns sicher nicht neu. Sie repräsentieren zwei biblische Wahrheiten. Sie stehen für zwei Sichtweisen, die Geschichte zu betrachten. Ein kurzer Blick auf jede dieser beiden Wahrheiten wird sich als hilfreich erweisen.

 

Die Verantwortung des Menschen

Was verstehen wir unter »Verantwortung des Menschen«? Wir glauben natürlich, dass sich der Mensch vor Gott für alles verantworten muss, was er tut. Gott hat den Menschen nicht dazu geschaffen, dass er seinen eigenen Weg geht. Der Mensch wurde dazu geschaffen, Gott zu dienen. Zu diesem Zweck hat Er dem Menschen Vorschriften gegeben, nach denen er leben soll. Der Mensch ist dafür verantwortlich, das zu tun, was Gott ihm vorschreibt. Wir sollten sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, das zu sein, was Gott ihm zu sein befiehlt. Das ist die Verantwortung des Menschen. Diese Wahrheit – die Wahrheit über die Verantwortung des Menschen vor Gott – hilft uns nun, das Leben zu verstehen. Sie gibt uns einen Standpunkt, von dem aus wir die Geschichte betrachten können. 

Wir hören heute zum Beispiel von Pandemien und von Wirtschaftskrisen. Wir beobachten unsere politischen Führungskräfte und sehen die Ergebnisse ihrer Handlungen. Und wir fragen uns: Warum werden solcherlei Beschlüsse gefasst? Warum geschehen all diese Dinge? Warum ist in der Welt so viel Aufruhr? Warum suchen die Menschen nicht nach Gott? Warum ist die Geschichte so, wie sie ist? Wie können wir darin einen Sinn finden?

Diese Fragen lassen sich im Hinblick auf die Verantwortung des Menschen beantworten. Wir können sagen: Der Mensch hat Gott nicht gedient, hat nicht nach Gottes Vorschriften gelebt, hat nicht getan, was Gott von ihm verlangte. Der Mensch ist nicht das gewesen, was Gott ihm aufgetragen hat.

Die gleiche Art von Antwort kann auf die Frage gegeben werden: »Warum haben so viele Völker das Evangelium noch nicht gehört?« Hier kommt die Verantwortung des Menschen ins Spiel. Wir können also die oben erwähnte Antwort wiederholen: »Ihr wisst, wie die Menschen sind. Sie tun nicht immer, was man ihnen sagt.« Und diese Antwort ist auch im Blick auf diese Problematik vollkommen richtig. Allerdings geht sie nicht weit genug. Genau hier könnten wir einen schwerwiegenden Fehler begehen. Wir könnten annehmen, dass hiermit alles gesagt sei. Aber wenn wir in dieser Weise denken, machen wir die Rechnung ohne Gott. Genauer gesagt, wir rechnen nicht mit der Souveränität Gottes.

 

Die Souveränität Gottes

Was meinen wir mit der Souveränität Gottes? Wir meinen, dass Gott in Seiner eigenen Schöpfung herrscht. Er regiert als König über alles, was Er geschaffen hat. Wir denken an das, was einst ein König sagte: »Nun lobe und erhebe und verherrliche ich, Nebukadnezar, den König des Himmels; denn all Sein Tun ist richtig, und Seine Wege sind gerecht; wer aber hochmütig wandelt, den kann Er demütigen!«
(Dan. 4,35). 

Wir meinen damit, dass die gesamte Weltgeschichte »Seine Geschichte« ist. Das bedeutet Souveränität Gottes. Manche Christen sagen: »Ich habe mit der Souveränität Gottes kein Problem, ich glaube daran!« Und das betonen sie energisch! Immer mehr junge Christen bekennen scheinbar, an die Souveränität Gottes zu glauben. Und das ist ja auch gut so. Wir müssen uns nur fragen, was diese Menschen unter der Souveränität Gottes wirklich verstehen. Ist es vielleicht nur ein neuer Trend? Oder der Beweis eines theologischen Wissensstandes? Aber auf der anderen Seite gibt es immer mehr Gläubige, die sogar einen Kampf gegen die Souveränität Gottes führen, zumindest gegen diese Lehre.

Wenn ein Missionar eine große Spende erhält, sagt man schnell, dass Gott es bewirkt hat. Wenn sich unsere Gesundheit unverhofft verbessert, geben wir Gott die Ehre. Wir denken: »Unser souveräner Gott hat uns diesen Segen gegeben.« Aber wir zögern, weiterzudenken. Ich glaube, dieses Zögern ist uns verständlich. Wir wollen die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir haben eine gewisse Zurückhaltung, denn wir wissen, dass wir Gott nicht zum Urheber der Sünde machen können. Was sagen wir, wenn irgendwo Sünde im Spiel ist und Böses geschieht? Dann kreiden wir das Geschehen den Menschen oder dem Satan an, oder? Ja, wir sind überzeugt, dass Gott regiert. Gott ist souverän, und wir glauben, dass all Sein Tun richtig ist. Doch wo Sünde im Spiel ist, so gehört das zur Verantwortung des Menschen! Manche lassen sich schnell dazu hinreißen, zu sagen: »Hier war Satan am Werk. Lasst Gott hier aus dem Spiel!«

Andere formulieren es so: »Wir dürfen die menschliche Verantwortung nicht durch die Souveränität Gottes ersetzen.« Und diese Worte müssen wir auch ernst nehmen. Aber wir müssen sie auch in gewisser Weise korrigieren, indem wir entschieden sagen: »Es geht hierbei nicht entweder um die menschliche Verantwortung oder um die Souveränität Gottes. Es kann nicht das eine ohne das andere gesehen werden. Es ist die Verantwortung des Menschen und die Souveränität Gottes. Lasst uns die Souveränität Gottes nicht durch die menschliche Verantwortung ersetzen.«

 

Wo herrscht Gott souverän?

Nun, wenn Gott nur an den Orten oder bei den Ereignissen herrschen würde, an denen keine Sünde vorliegt, dann würde Gott nicht auf dieser Erde herrschen. Wenn die Sünde Gottes Plan durchkreuzen könnte, dann wäre Seine Souveränität nichts weiter als eine leere Floskel. Wenn Gott das gesamte Universum regiert, kann Er dann nicht auch die Erde regieren?! Dass dem so ist, können wir mit der Schrift leicht belegen, z. B. anhand von Jesaja 45,6-7. Tatsache ist, dass in allem, was der Mensch tut, Sünde mit im Spiel ist. Das ist schon seit dem Sündenfall so. Zunächst einmal müssen wir sehen, dass alles, was der natürliche Mensch tut, sündhaft ist. Sein fleischlicher Sinn »unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht, und kann es auch nicht; und die im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen« (Röm. 8,7-8). Das ist Gottes Einschätzung aller natürlichen bzw. nicht wiedergeborenen Menschen. 

Doch gerade diese Menschen »regieren« die Welt – die Könige, die Präsidenten, die Ministerpräsidenten und die Wirtschaftsexperten. Und sie sind die Visionäre und die Gelehrten von Milliarden von Menschen auf der Erde. Wo ist dann noch Platz für Gott? Es gibt keinen Platz für Ihn, wenn Gott nicht dort herrscht, wo Sünde vorhanden ist. Besser gibt man die Formulierung »die Souveränität Gottes« auf, als sie ihres Inhalts zu entleeren und sie somit zu entkräften. Wenn der Kern der Wahrheit nicht mehr vorhanden ist, brauchen wir nicht die Schale, gefüllt mit leeren Worten, zu reservieren.

Das ist aber noch nicht alles. Wenn Gott nicht dort regiert, wo die Sünde bereits existiert, dann regiert Er auch nicht in den Herzen der Gläubigen. »Denn es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt« (2.Chr. 6,36). Und »wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns« (1.Joh. 1,8). 

Um diesem Problem gerecht zu werden, würden einige die Souveränität Gottes gern auf das Ende der Menschheitsgeschichte beschränken. Sie sagen: »Gott wird eines Tages alle Puzzleteile zusammenfügen. Er wird dafür sorgen, dass am Ende alles gut sein wird.« Ohne Zweifel wird Er das tun! Aber wenn das alles ist, was Seine Souveränität beinhaltet, dann sind Ihm im Augenblick die Hände quasi gebunden. Können wir das tatsächlich für wahr halten? Sicherlich nicht! Wir können es nicht wahrhaben, und wir wagen es nicht zu glauben. Die ganze Heilige Schrift widersteht dieser Auffassung. Gott regiert! Das bezeugt das Wort Gottes. Hat nicht unser Herr Jesus gesagt: »Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden« (Mt. 28,18)? Hat Er jemals auf Seine Herrschaft verzichtet? Nein! Und keine Macht im Himmel oder auf Erden kann Ihn zu Fall bringen!

 

Die Herausforderung, die Geschichte aus beiden Perspektiven zu sehen

Wie wir jetzt gesehen haben, geben uns die menschliche Verantwortung und die Souveränität Gottes jeweils einen Blickwinkel, von dem aus wir die Geschichte betrachten sollten. 

Wir hören von Pandemien und Wirtschaftskrisen. Wir beobachten unsere Regierungschefs und sehen die Ergebnisse ihrer Handlungsweise. Warum geschehen derartige Dinge? Warum ist die Geschichte so, wie sie ist? Wir haben diese Fragen aus dem Blickwinkel der Verantwortung des Menschen beantwortet. Und unsere Antworten sind schlüssig. Wir sagen: »Die Menschen haben es versäumt, nach den Vorschriften Gottes zu leben. Der Mensch ist nicht das gewesen, was Gott ihm zu sein aufgetragen hat.« Obwohl diese Antwort richtig ist, greift sie aber zu kurz. Wir haben jedoch noch eine andere Antwort gesehen, einen anderen Standpunkt, von dem aus wir unsere Welt betrachten müssen – den Standpunkt der Souveränität Gottes.

Der König David konnte sagen: »Dein, o HERR, ist die Majestät und die Gewalt und die Herrlichkeit und der Glanz und der Ruhm! Denn alles, was im Himmel und auf Erden ist, das ist Dein. Dein, o HERR, ist das Reich, und Du bist als Haupt über alles erhaben! Reichtum und Ehre kommen von Dir! Du herrschst über alles; in Deiner Hand stehen Kraft und Macht; in Deiner Hand steht es, alles groß und stark zu machen!« (1.Chr. 29,11-12). Dieses wunderbare Gebet von David zeigt uns, welch hohe Sicht er auf die Souveränität Gottes hatte. Viele Christen haben solch eine Sicht von Gott verloren. Sie fragen: »Wer lenkt die Geschichte auf dieser Erde – Gott oder der Teufel?« Dass Gott im Himmel herrscht, wird im Allgemeinen bejaht; dass Er es auch auf der Erde tut, wird nahezu überall geleugnet – wenn nicht direkt, dann doch indirekt. Die Heilige Schrift versichert uns aber, dass Gott auf dem Thron des Universums sitzt; dass Er das Zepter in Seinen Händen hält; dass Er alles lenkt »nach dem Ratschluss Seines Willens«. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Gott muss entweder herrschen oder beherrscht werden; Er muss entweder Seinen Willen durchführen können oder ihn von Seinen Geschöpfen durchkreuzen lassen. 

Unser Problem ist es, dass es uns schwer fällt, diese beiden Wahrheiten zusammenzubringen. Einerseits können wir nicht die Verantwortung des Menschen leugnen. Wir können nicht behaupten, dass die Christen alles getan hätten, was sie tun sollten, um allen Völkern das Evangelium zu verkündigen. Und anderseits müssen wir nicht so tun, als könnten wir das Problem lösen, wie Gott inmitten der Sünde regieren kann, ohne sich Selbst zu verunreinigen. Gott allein kennt die Antwort darauf. Wir kennen sie nicht.

Nun, wir wissen, dass Gott regiert, müssen aber auch klar sagen, dass der Mensch versagt hat und immer wieder versagen wird. Wir müssen zusammen mit William Carey sagen: »Es gefiel Gott … und Gott hat Seine Gründe dafür«. Es gibt einen gewissen Drang in Careys Antwort: den Drang, sich an Gott zu wenden. Und das brauchen wir so sehr! Natürlich müssen wir auch an unserer Verantwortung festhalten. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren! Aber vor allem müssen wir dafür beten, dass wir lernen, in diesen Dimensionen zu denken, zu empfinden und zu sprechen: »Es hat Gott gefallen! Gott hat Seine Gründe dafür!« Ja, letztendlich regiert Gott über alles! »Denn von Ihm und durch Ihn und für Ihn sind alle Dinge; Ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen« (Römer 11,36).

 


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Was ist die treibende Kraft zur Missionsarbeit?

von Lucas Derksen Lesezeit: 18 min