Dürfen Christen zornig sein?

16 Februar, 2023

Kategorie: Erbauung

Dürfen Christen zornig sein?


Ist Zorn verboten?

Wie kann man mit dem Zorn auf Gottes Art und Weise fertigwerden? 

Ich möchte gleich zu Anfang betonen, dass Zorn nicht unbedingt verkehrt ist. Manche Christen meinen, Zorn sei von vornherein Sünde. Aber das ist nicht die Sichtweise der Bibel. Jede Gefühlsregung, zu der wir fähig sind, ist uns von Gott zu einem bestimmten Zweck gegeben. Unter gewissen Umständen ist Zorn eine sehr angemessene Gemütsäußerung, und selbst eine bestimmte Art Hass kann richtig sein. 

Wir lesen in den Psalmen: »Die ihr den HERRN liebt, hasst das Böse!« (Ps. 97,10). Selbst eine an sich so zerstörende Kraft wie der Hass kann also auf richtige Weise eingesetzt werden. Und in Psalm 7,12 haben wir ein Beispiel für gerechten Zorn: Gott ist zornig über den Ungerechten.

In Markus 3,5 wird uns berichtet, dass Jesus die Pharisäer ringsherum mit Zorn ansah und zu ihnen sprach. Diesen Zorn Jesu erfuhren auch die Händler, die Er aus dem Tempel trieb, als Er eine Geißel aus Stricken machte, wie auch die Geldwechsler, deren Tische Er umstieß, sodass das Geld in alle Richtungen verschüttet wurde. Dahinter stand Sein gerechter Zorn. Die Bibel erklärt Sein Handeln mit den Worten: »Der Eifer um Dein Haus hat Mich verzehrt« (Ps. 69,10). Und das ist eine sehr plastische Formulierung für heftigen Zorn. 

Zorn ist also nicht immer verkehrt. Aber weil er eine so starke Emotion ist, kann er auch eine Katastrophe anrichten, wenn er nicht in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Es ist darum sehr leicht möglich, dass wir im Zorn verkehrt handeln. Deshalb werden wir im Epheserbrief gewarnt: »Zürnt ihr, so sündigt nicht; die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn!« (Eph. 4,26). Hier ist von einem berechtigten Zorn die Rede, der sich aber sehr leicht in einen ungerechten Zorn verwandeln kann. Deshalb müssen wir auf diese Warnung hören und ihr folgen.

Es gibt zumindest zwei Möglichkeiten, dass Zorn zur Sünde wird. Zunächst dadurch, dass wir über die falschen Dinge zornig sind. Jemand wird z. B. zornig, weil ein anderer seine Gefühle verletzt hat. Wir haben aber nicht das Recht, aufzubrausen, weil andere über uns reden. Meistens reagieren wir ja umso empfindlicher, je mehr der andere die Wahrheit sagt. Dieser Zorn ist Sünde. 

Zorn ist auch dann Sünde, wenn er auf falsche Art und Weise zum Ausdruck gebracht wird. Die biblische Ausgewogenheit zu praktizieren, fällt uns auch in anderen Bereichen des Lebens schwer. 

Die Bibel sagt, es gibt für alles eine Zeit. Wir müssen nur herausfinden, welche Zeit aus der Sicht Gottes wofür geeignet ist. Das betrifft auch die Frage, ob, wann und wie man dem Zorn Ausdruck verleiht. 

Das andere Problem in diesem Zusammenhang hat praktisch die ganze Kirchengeschichte mitbestimmt. Es ist die richtige Zuordnung von Wahrheit und Liebe. Immer wieder wurden die Forderungen, beides zu beachten, gegeneinander ausgespielt. Zur Zeit der Inquisition wurden Menschen umgebracht im Namen der Wahrheit. Andererseits reden Menschen häufig von Liebe, wenn sie in Wirklichkeit Sünde entschuldigen wollen. 

Aber in keinem Fall dürfen wir es mit der Liebe auf Kosten der Wahrheit halten oder mit der Wahrheit auf Kosten der Liebe. Die Bibel sagt uns vielmehr, dass wir lieben sollen in Wahrheit und die Wahrheit reden sollen in Liebe (Eph. 4,15). Wahrheit und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden. 

Was wir also zunächst einmal lernen müssen, wenn wir unsere alten Lebensgewohnheiten durchbrechen wollen, ist: nicht ständig die Liebe zu verletzen – und nicht ständig die Sünde zu entschuldigen. Jeder von uns hat nämlich die Tendenz, genau das zu tun und von einem Extrem ins andere zu fallen. 

Ich habe oft erlebt, dass junge Menschen zu uns in die Seelsorge kamen. Sie sagten, sie wollten frei sein von ihren Eltern: »Ich tue einfach nicht, was meine Eltern von mir verlangen!« Aber auf diese Art und Weise waren sie noch stärker von ihren Eltern abhängig geworden als vorher. Alles, was sie taten, war eine Reaktion auf die Wünsche ihrer Eltern. Der Mensch, der wirklich frei ist, kann unter Umständen gerade das tun, was die Eltern von ihm verlangen – nicht, weil sie es verlangen, sondern weil es in Gottes Augen richtig ist. 

Auftretender Zorn kann auf zweierlei Weise abgeleitet werden: Nach außen und nach innen. Man kann explodieren oder den Zorn in sich hineinfressen.

Seinem Zorn freien Lauf lassen?

Viele Menschen glauben, dass der Zorn nach außen abgeleitet werden müsse. Die gängigen Theorien in der heutigen Psychotherapie liegen alle auf dieser Linie. Man sagt: Wenn man den Zorn verdrängt, kann das bei einem selbst großen Schaden anrichten. Das ist richtig. Und deshalb solle man seinem Zorn irgendwo freien Lauf lassen. Das halte ich aber für falsch. 

In manchen Gruppentherapien kann das so aussehen, dass ein Teilnehmer dazu ermutigt wird, seinen Zorn gegenüber einem Menschen, etwa der Mutter, an einem Objekt abzureagieren. Und ehe man sich versieht, schlägt man wie wild auf ein Kissen ein. Die Federn fliegen im ganzen Zimmer herum – und im Herzen hat man seine Mutter umgebracht. 

Aus der Sicht der Bibel ist diese Art der Hingabe an den Zorn verkehrt. In den Sprüchen Salomos ist oft davon die Rede, zum Beispiel in Sprüche 29,11: »Ein Tor lässt all seinem Unmut freien Lauf, aber ein Weiser hält ihn zurück.« 

Gott sagt uns im Buch der Sprüche, dass nur ein Narr seinem Zorn freien Lauf lässt, und genau dazu fordert man uns heute auf. Aber das ist keine Lösung unseres Problems.

Den Zorn in sich hineinfressen?

Nehmen wir jetzt das andere Extrem: Dass man den Zorn in sich hineinfrisst. Wir erinnern uns, dass es in Epheser 4,26 heißt: »Zürnt ihr, so sündigt nicht; die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn!« 

Ein Ehepaar kam in die Seelsorge. Da saßen sie nun – sie sehr selbstbewusst, er eher ängstlich. 

»Ich bin hier, weil mein Hausarzt mich geschickt hat«, begann sie das Gespräch. »Ich stehe kurz davor, Magengeschwüre zu bekommen, die aber keine körperliche Ursache haben.« Sie fasste in einen Beutel, nahm einen Ordner heraus und warf ihn auf den Tisch. »Genau darum bekomme ich Magengeschwüre!« 

Der Ordner enthielt über hundert Seiten, engzeilig und auf beiden Seiten beschrieben. Der Seelsorger nahm dieses Manuskript und blätterte darin. Es enthielt genaue Aufzeichnungen, wann und auf welche Weise ihr Mann sich während der letzten dreizehn Jahre ihr gegenüber falsch verhalten habe. 

Was hättest du zu dieser Frau gesagt? 

Der Seelsorger überlegte einen Moment und sagte dann: »Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so nachtragend ist wie Sie.« 

Sie sah ihn ziemlich entsetzt an, während der Mann sich ein wenig aufrichtete. 

»Vielleicht sind diese Aufzeichnungen alle zutreffend (in späteren Gesprächen stellte sich heraus, dass es tatsächlich sehr genaue Aufzeichnungen waren), aber sie sind der Beweis, dass Sie dreizehn Jahre verkehrt gelebt haben. Es ist nicht wichtig, wieviel Unrecht Ihr Mann Ihnen zugefügt hat, sondern die Frage ist jetzt, warum Sie darauf so falsch reagiert haben. In 1. Korinther 13 heißt es, dass die Liebe das Böse nicht zurechnet. Sie dagegen haben in einer lieblosen Weise dreizehn Jahre lang Aufzeichnungen darüber gemacht. Das ist Ihre Sünde. Sie bekommen nicht deshalb Magengeschwüre, weil Ihr Mann so vieles falsch gemacht hat; sie bekommen Magengeschwüre, weil sie so falsch reagiert haben.« 

Später kam natürlich auch die Rede auf die Dinge, die der Mann verkehrt gemacht hatte. Dafür war er verantwortlich, und er musste sich damit auseinandersetzen. So falsch seine Handlungsweise auch immer gewesen war – die Frau musste lernen, in jedem Fall richtig zu reagieren. 

Der Apostel Paulus hatte viel zu erleiden, aber er bekam davon keine Magengeschwüre. Paulus wusste, wie er dem Fehlverhalten anderer begegnen konnte. Ein unvergleichlich größeres Beispiel ist Jesus: Anstatt verbittert und negativ zu reagieren, betete Er für die Menschen, die ihm Böses antaten. Aber diese Frau hatte nicht nur die Sonne untergehen lassen über ihrem Zorn, sondern auch viele Monde. 

Ehescheidungen sind sehr oft das Ergebnis von Zorn und Bitterkeit, die lange Zeit »heruntergeschluckt« wurden. 

Da kam zum Beispiel ein Mann zu mir mit dem festen Entschluss, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. 

»Immer lässt sie die Türen offenstehen! Jedes Mal, wenn sie aus einem Schrank etwas braucht, bleibt die Tür offen! Wie oft habe ich mich schon an offenen Türen gestoßen! Ich halte das einfach nicht mehr aus!« 

Wollte sich der Mann tatsächlich nur wegen dieser offengebliebenen Türen scheiden lassen? Ja und nein. Die Türen waren ein Teil des Problems. Sie waren eine tägliche Erinnerung an Dinge, die ebenfalls ungeklärt geblieben waren. Dieser Mann hatte nicht nur Kratzer und Schrammen, weil er im Dunkeln gegen offene Schranktüren gerannt war, sondern auch, weil er Bitterkeit in sich hineingefressen hatte. Aber auf die Türen konzentrierte er sich nun, weil sie ein täglich wiederkehrendes Ärgernis bildeten. 

Bist du verbittert?

Ob du verbittert bist, erkennst du daran, wie du auf kleine Schwierigkeiten reagierst. Steht deine Erregung im richtigen Verhältnis zur Bedeutung der Sache? Es gibt Ehen, die wegen Lappalien wie Zahnpastatuben geschieden werden. 

Der Mann kommt nach Hause und sieht, dass die Zahnpastatube in der Mitte zusammengedrückt ist und nicht, wie er es wünscht, vom Ende her. Er zischt: »Sie hat es schon wieder getan!« 

Oder die Frau kommt nach Hause und sieht, dass der Verschluss wieder nicht auf der Tube ist. Ärgerlich will sie etwas Zahnpasta aus der Tube pressen, aber die ist eingetrocknet. Sie drückt immer wütender, bis schließlich die Tube an einer Stelle aufplatzt – und natürlich über das neue Kleid. Sie schreit: »Dieser Mann …! Ich lasse mich scheiden!« 

Wie viel Zorn wären solche Kleinigkeiten wert? Jener Mann hätte weiter nichts zu tun brauchen als zu sagen: »Nun, da hat wieder jemand die Zahnpastatube in der Mitte zusammengedrückt.« Oder die Frau: »Zu dumm, die Zahnpasta ist jetzt auf meinem Kleid!« Das wäre ungefähr die Erregung, die diese Dinge verdienen. Aber stattdessen schimpfen sie los: »Dieser Mann …! – Diese Frau …!« Sie sagen nicht: »Diese Zahnpasta …!«, und das ist der Unterschied. 

Wenn kleine Dinge eine solche Reaktion hervorrufen, kannst du sicher sein, dass es tief innen bei dir aufgestaute Bitterkeit gibt. 

Was kann man tun? 

Weder das Explodieren noch das In-sich-Hineinfressen sind Reaktionen, die dem Willen Gottes entsprechen. 

Was kann man stattdessen tun? 

Stell dir vor, es hat vier Wochen lang hintereinander geregnet. Die Kinder mussten die ganze Zeit in der Wohnung bleiben und konnten nicht draußen spielen. Du selbst bist gereizt, und dann passiert irgendeine Kleinigkeit, und auf einmal explodierst du. 

Kann man solchen Zorn kontrollieren? Wahrscheinlich wirst du behaupten, das sei unmöglich. Du hast es ja schon versucht und schaffst es einfach nicht. Aber wenn jemand, dem leicht »der Kragen platzt«, zu mir kommt, sage ich ihm etwa Folgendes: »Ich verstehe: Du fühlst dich wie der Vesuv; die glühende Lava fliegt nach allen Seiten, und die Explosion ist so gewaltig, dass alle umliegenden Bewohner sich in Sicherheit bringen müssen.« 

»Ja, so ähnlich ist es, wenn es passiert; aber ich habe einfach keine Kontrolle darüber. Ich kann nichts dafür …« 

»Nimm einmal an, dass mitten in dieser Explosion das Telefon klingelt und jemand dich sprechen will, auf den du einen guten Eindruck machen möchtest – sagen wir: Ein Ältester der Gemeinde. Bekommt er auch noch etwas von der Lava ab? 

Nein, die Reaktion wird vielmehr sein: ›O hallo, wie geht es dir …?‹ 

Was ist in diesem Augenblick geschehen? Du hast deinen Zorn erstaunlich schnell unter Kontrolle. Also geht es doch!«

Ich sage zu dem Mann, der immer zu explodieren pflegt: »Du kommst nach Hause, verwüstest das ganze Zimmer, schreist deine Frau an und sagst ihr, was sie alles verkehrt gemacht hat. Natürlich wirst du das gleiche auch am Arbeitsplatz machen, wenn dein Chef irgendetwas sagt, was dir nicht gefällt.« 

Antwort: »Nein, dort geht das natürlich nicht. Ich würde meine Stelle verlieren.« 

Wir haben also gelernt, bei bestimmten Gelegenheiten den Zorn zu kontrollieren, aber auch, ihm bei anderen Gelegenheiten freien Lauf zu lassen. Wenn wir meinen, es uns leisten zu können, explodieren wir, und wo wir es uns nicht leisten können, bleiben wir beherrscht. Wenn ein Mensch in der Lage ist zu lernen, seinen Zorn unter bestimmten Gegebenheiten zu kontrollieren, dann ist er erst recht durch Gottes Gnade dazu fähig.

Wer seinem Zorn freien Lauf lässt oder ihn in sich hineinfrisst, hat ihn nicht auf produktive Art und Weise genutzt. Es ist ein destruktiver Zorn. Wenn wir explodieren, richten wir unsere Kräfte gegen andere. Ich habe Leute kennengelernt, die vor Wut mit der blanken Faust Türen eingeschlagen haben. Aber besonders konstruktiv war das nicht. Wer den Zorn in sich hineinfrisst, richtet ihn gegen sich selbst. Er wird krank und bekommt Magengeschwüre.

Zorn setzt ungeheure Energien frei, und das ist eine Chance. 

Wenn wir zornig sind, dann muss mit der freiwerdenden Energie irgendetwas geschehen. Wenn sie nicht schöpferisch-konstruktiv genutzt wird, dann wird sie zerstörerisch genutzt. 

Wo liegt nun aber die Antwort auf dieses Problem? Epheser 4,29 hilft uns auf die Sprünge. Es heißt dort sinngemäß: »Lasst keine verdorbenen, unreinen Worte aus eurem Munde kommen, sondern nur solche Worte, die konstruktiv und aufbauend sind, die auf das Problem abzielen, das sich ergeben hat, sodass es eine Hilfe bedeutet für die, die es hören.« 

Anstatt unsere Wut an anderen Leuten abzureagieren oder sie gegen uns selbst zu richten, sollten wir diese Energien des Zorns auf das Problem selbst lenken. Der Zornige muss sich sagen: »Ich werde nicht explodieren und diese Sache auch nicht in mich hineinfressen, sondern ich werde nicht eher ruhen, bis dieses Problem gelöst ist, und zwar auf eine Weise, die Gottes Willen entspricht.« 

Viele werden nun antworten: »Ich glaube nicht, dass das funktioniert, wenigstens nicht bei mir; ich habe nicht die Kraft und den Glauben dazu.«

Wir haben auch als Christen nicht die Kraft dazu in uns, aber Gott wird sie uns zur rechten Zeit geben. Diese Kraft kommt dadurch zu uns, wie Jakobus in seinem Brief sagt, dass wir glückselig sind im Tun des Wortes und nicht vergessliche Hörer sind. Wenn wir einfach herumsitzen und darauf warten, dass wir die Kraft bekommen, so zu handeln, werden wir lange warten müssen. Aber wenn zum Beispiel Mann und Frau abends zusammensitzen und beginnen, respektvoll miteinander zu reden und ihre Probleme zum Kreuz Christi zu bringen, dann geschieht etwas Produktives: Sie werden lernen, dass ihr Zorn eine konstruktive Richtung bekommt und ihnen hilft, nach den Maßstäben Gottes zu leben.


Entnommen aus dem Buch: »Festgefahren«

Blog

Dürfen Christen zornig sein?

von Verena Penner Lesezeit: 10 min