Die Kennzeichen der wahren Gemeinde

17 Mai, 2022

Kategorie: Erbauung

Die Kennzeichen der wahren Gemeinde


1. Die Verkündigung des Wortes Gottes

Die biblische Lehre zeigt uns, dass es drei Hauptkennzeichen der Gemeinde gibt. Das erste ist die Verkündigung des Wortes. Das ist die Hauptaufgabe der Gemeinde; sie wurde zu diesem Zweck geschaffen und ins Dasein gerufen. Die Verkündigung des Wortes geschieht in zweierlei Hinsicht. Das Wort wird in der Gemeinde zur Auferbauung und Stärkung der Gläubigen als Auslegungspredigt gelehrt. Die Gemeinde ist die Gemeinschaft derer, die an Christus glauben, sich Ihm als Haupt unterordnen und Seine Herrschaft anerkennen. Das Wort wird unter ihnen verkündigt, damit sie im Glauben gestärkt werden.

Die Briefe des Neuen Testaments wurden mit dieser eindeutigen Absicht an Gläubige geschrieben, und die Apostel und Propheten hatten in ihrer Predigt dasselbe Ziel. Wenn Menschen sich bekehrten, so war dies nur der Anfang: Sie waren in Christus wiedergeborene Säuglinge und bedurften nun der Unterweisung; sie mussten vor Irrtümern gewarnt und vor Irrlehren geschützt werden. Somit ist die Gemeinde für Gläubige lebenswichtig.

Der zweite Zweck der Verkündigung ist natürlich die Evangelisation. Es ist die besondere Aufgabe der Gemeinde Jesu, jenen zu predigen, die noch ungläubig sind. Unser Herr sagt in Seinem hohenpriesterlichen Gebet in Johannes 17 ganz eindeutig, dass der Vater, wie Er Ihn in die Welt gesandt hatte, auch Seine Jünger und alle, die durch ihr Wort an Ihn glauben würden, in die Welt sendet (Joh. 17,18-20). Die Jünger wurden so wie Er in die Welt gesandt. Er war gekommen und hatte die Botschaft vom Reich Gottes gebracht, und auch wir sind ausgesandt, um dieselbe Botschaft zu bringen. Es ist ein Bestandteil der Aufgabe der Gemeinde, das Evangelium denen zu verkündigen, die draußen sind, damit sie überzeugt und von ihrer Sünde überführt werden können und damit sie zum lebendigen und notwendigen Glauben an unseren Herrn und Heiland Jesus Christus geführt werden können. Das ist also das erste Kennzeichen der Gemeinde: die Verkündigung des Wortes.

2. Verordnungen in der Gemeinde

Das zweite Kennzeichen und Merkmal der Gemeinde ist die rechte Verwaltung der Verordnungen: die Taufe und das Mahl des Herrn. An dieser Stelle möchte ich dieses Thema nicht näher behandeln, aber ich muss die Verwaltung der Verordnungen dennoch erwähnen, weil sie eines der Kennzeichen der Gemeinde ist. Die Gemeinde ist ein Ort, wo die Taufe und das Mahl des Herrn in Verbindung mit der Verkündigung des Wortes Gottes wahrhaft und recht verwaltet werden.

3. Die Gemeindezucht

Das dritte Kennzeichen der Gemeinde, das zu betonen mir besonders am Herzen liegt, ist die Ausübung von Gemeindezucht. Wenn ich am Anfang gefragt hätte: »Welches sind die drei wesentlichen Kennzeichen der Gemeinde?«, dann wäre es mir fraglich, wie viele die Ausübung von Gemeindezucht genannt hätten. Es ist zweifellos so, dass die Lehre darüber schmerzlich vernachlässigt wird. Wenn ich gefragt würde, warum heute in den Gemeinden solche traurigen Zustände herrschen, dann müsste ich tatsächlich sagen, dass der letztlich ausschlaggebende Grund die mangelnde Ausübung von Gemeindezucht ist.

Wann haben Sie zuletzt gehört, dass irgendwo von einer Kanzel über das Thema der Gemeindezucht gesprochen wurde? Wie oft haben Sie Predigten oder Vorträge über das Thema gehört? 

Es ist schriftgemäß, wenn ich darauf hinweise, dass Gemeindezucht ausgeübt werden sollte. Nehmen wir die Stelle in Matthäus 18, ab Vers 15: »Wenn aber dein Bruder an dir gesündigt hat, so geh hin und weise ihn zurecht unter vier Augen. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er aber nicht, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jede Sache auf der Aussage von zwei oder drei Zeugen beruht. Hört er aber auf diese nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner« (Mt. 18,15-17). Das sind die Worte, die unser Herr Selbst sprach.

Dann lesen wir noch in Römer 16,17: »Ich ermahne euch aber, ihr Brüder: Gebt acht auf die, welche Trennungen und Ärgernisse bewirken im Widerspruch zu der Lehre, die ihr gelernt habt, und meidet sie!« Das ganze fünfte Kapitel des ersten Korintherbriefes hat die Gemeindezucht zum Thema. Es endet mit den Worten: »So tut den Bösen aus eurer Mitte hinweg!« (V. 13). Nichts könnte deutlicher sein als das. Wir finden dies noch einmal in 2. Korinther 2, insbesondere in den Versen 5 bis 10, wo Paulus über die Wiederaufnahme eines Mannes spricht, der unter Zucht gestellt worden war. Außerdem bespricht er das Thema noch einmal in 2. Thessalonicher 3, wo er Anweisungen darüber gibt, was mit den Gliedern der Gemeinde geschehen soll, die einen unordentlichen Lebenswandel führen. Dann steht in Titus 3,10 dieses ausdrückliche Gebot: »Einen sektiererischen Menschen weise nach ein- und zweimaliger Zurechtweisung ab.« Auch enthalten die verschiedenen Sendschreiben an die einzelnen Gemeinden im Buch der Offenbarung Ermahnungen hinsichtlich der Ausübung von Gemeindezucht.

Diese Lehre findet sich auch im 2. Johannesbrief, Vers 10. Und natürlich enthalten auch die verschiedenen Sendschreiben an die einzelnen Gemeinden im Buch der Offenbarung Ermahnungen hinsichtlich der Ausübung von Gemeindezucht.

Trotz alledem gibt es Menschen, die beständig versuchen, das Fehlen von oder den Mangel an Zucht in der örtlichen Gemeinde zu rechtfertigen, und eigenartigerweise tun viele dies unter Berufung auf Matthäus 13, auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Sie sagen dann ungefähr Folgendes: »Sie dürfen Christen nicht züchtigen. Wenn Sie versuchen, Zucht auszuüben und Menschen aus der Gemeinde auszuschließen, dann handeln Sie den Anweisungen zuwider, die unser Herr Selbst erteilte; denn als die Knechte sprachen: ›Willst Du nun, dass wir hingehen und es zusammenlesen?‹, antwortete der Meister: ›Nein!, damit ihr nicht beim Zusammenlesen des Unkrauts zugleich mit ihm den Weizen ausreißt. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte.‹« (Mt. 13,28-30). Darüber hinaus haben manche Leute aus genau denselben Gründen etwas gegen jede Form der Trennung wahrer Christen von dem, was man als eine abgefallene Gemeinde betrachten könnte.

Dies ist jedoch eine schwerwiegende Fehlinterpretation der Heiligen Schrift, denn das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen bezieht sich offensichtlich nicht auf die Gemeinde, sondern auf das Reich Gottes. Alle Gleichnisse in Matthäus 13 sind Gleichnisse vom Reich der Himmel, und wir können es deutlich sehen, dass die Gemeinde und jenes Reich nicht identisch sind. Die Gemeinde ist ein Ausdruck des Himmelreiches, aber dieses ist größer als die Gemeinde. Und natürlich sagt unser Herr Selbst in Seiner eigenen Deutung des Gleichnisses, dass der Acker, in welchen der Weizen und das Unkraut gesät sind, nicht die Gemeinde, sondern die Welt ist. Der gute Same sind die Söhne des Reiches, das Unkraut aber sind die Söhne des Bösen (Mt. 13,38). Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen hat also keinen Bezug zur Frage der Gemeindezucht in der örtlichen Gemeinde. Es ist ein Bild von der ganzen Welt, die aus dem Grund, dass sie Gott gehört, in diesem allgemeinen Sinne als Sein Reich betrachtet werden kann. In der Welt gibt es jedoch diese beiden Gruppen – solche Menschen, die Christen sind, die dem ewigen Reich angehören, und solche, die dem Teufel gehören.

Wenn man das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen auf die Gemeinde anwendet, verfällt man demselben Irrtum wie die Katholiken, und es ist ein Irrtum, dem die meisten Gemeinden, die der katholischen Kirche folgen, tendenziell verfallen sind. Deshalb gibt es in gewissem Sinne in der römisch-katholischen Kirche keine Gemeindezucht. Daher ist es möglich, dass Menschen als vortreffliche Christen angesehen werden, auch wenn sie ein zügelloses Leben führen. Sie werden nicht unter Zucht gestellt; sie werden nicht aus der Kirche ausgeschlossen. Und leider trifft das Gleiche auf viele Gemeinden zu. Die biblische Sichtweise der Gemeinde verlangt jedoch, dass Zucht ausgeübt wird. Überdies ist die Praxis der Gemeindezucht – wie wir gerade gesehen haben – etwas, zu dem wir wiederholt und nachdrücklich in der Heiligen Schrift selbst ermahnt werden.

Die Gemeindezucht ist nun etwas, was nach zwei wesentlichen Grundsätzen ausgeübt werden soll. Zuallererst muss Gemeindezucht im Hinblick auf die Lehre ausgeübt werden. Wir lesen: »Einen sektiererischen Menschen weise nach einer ein- und zweimaligen Zurechtweisung ab« (Tit. 3,10). Johannes sagt, dass jemand, wenn er nicht die wahre Lehre des Christus bringt, überhaupt nicht aufgenommen werden darf, nicht einmal in jemandes Haus, geschweige denn in die Gemeinde. Dies bedeutet nicht, dass Christen niemals einen Ungläubigen in ihr Haus lassen sollten. Selbstverständlich bedeutet es nichts dergleichen! Was es aber sehr wohl meint, ist, dass die Gläubigen einen Menschen, der nicht nur behauptet, ein Christ zu sein, sondern auch ein Lehrer, und dabei Irrtum lehrt, ganz sicher nicht in ihr Haus aufnehmen dürfen. Aber selbstverständlich nehmen sie einen Ungläubigen in ihr Haus auf, damit sie mit ihm über die christliche Botschaft sprechen können. Paulus bringt dies in 1. Korinther 5,10-11 wunderbar zum Ausdruck, wo er sinngemäß sagt: »In all diesen Fragen der Zucht beziehe ich mich nicht auf die Menschen, die draußen in der Welt sind; denn wenn ihr euch von all diesen Leuten fernhalten solltet, dann müsstet ihr ja aus der Welt hinausgehen! Nein, das sage ich hiermit nicht, sondern ich sage sehr wohl, dass ihr mit einem Menschen, der sich ein Bruder nennt und sich dieser Sünden schuldig macht, keine Gemeinschaft haben dürft.«

Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns wirklich um die Lehre in der Gemeinde kümmern und etwas gegen falsche Lehre unternehmen müssen. Und ich denke, dass die ganze Situation, mit der wir heute konfrontiert sind, einen reichlichen Beweis für die schrecklichen Folgen liefert, die daher rühren, dass keine Gemeindezucht bezüglich der Lehre ausgeübt wurde. Ich zögere nicht zu behaupten, dass unsere Großväter und Urgroßväter im 19. Jahrhundert jene Gemeindezucht nicht ausgeübt haben, die sie hätten ausüben müssen, als jene verhängnisvolle Bibelkritik aus Deutschland in viele Länder einzudringen begann. Weil es ihnen nicht gelang, die Menschen, die solche Dinge glaubten und lehrten, unter Gemeindezucht zu stellen, sind wir Zeuge der heutigen Situation. Mit einer falsch verstandenen Toleranz und häufig auch mit einem falschen Verständnis der Heiligen Schrift ließen sie diese falsche Lehre gewähren, in der Hoffnung, dass bald alles wieder besser werden würde. Sie sprachen sich dafür aus, ein positives Zeugnis darzustellen und nicht zu ablehnend sein zu wollen! In unserer heutigen Generation ernten wir die Früchte jenes tragischen Irrtums auf Seiten der Gemeindeleitungen.

Wir müssen also hinsichtlich der Lehre Gemeindezucht üben, und im selben Maße müssen wir die Gemeindezucht auch im Hinblick auf das Leben und die Lebensweise üben. Denn wenn die Gemeindeglieder die biblische Lehre in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten verleugnen, wer wird dann noch daran glauben? Dies ist die effektivste Leugnung der Worte unseres Herrn: »So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Mt. 5,16). Inkonsequenz oder ein sündiges Leben eines Gläubigen tun der Sache Christi unberechenbaren Schaden an. Es macht nichts aus, wie rechtgläubig jene Menschen sein mögen – wenn sie sich selbst nicht beherrschen und ihr Temperament, ihre Lüste, Leidenschaften und sinnlichen Begierden nicht zügeln, dann verleugnen sie im Wort und in der Tat den Glauben, den sie verkündigen, und sind Außenstehenden ein Hindernis und ein Anstoß.

Die biblische Lehre ist, dass ein ungehorsamer Bruder, der sich nicht ändern will und der Zurechtweisung keine Beachtung schenkt, sogar aus der Gemeinde ausgeschlossen werden muss. Es kann sein, dass man ihn »dem Satan übergeben« muss – ein Ausdruck, den Paulus gebraucht – »zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tag des Herrn Jesus« (1.Kor. 5,5). Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber wahrscheinlich ist ungefähr Folgendes gemeint: Man entzieht dem Betroffenen nicht nur die Gemeinde-Mitgliedschaft, sondern hört auch auf, für ihn zu beten. Man überlässt ihn gleichsam dem Satan, und dieser wird ihm Leiden zufügen, möglicherweise körperlich. Er wird sich unglücklich und elend fühlen, und das könnte ihn wieder zur Vernunft bringen, sodass seine Seele errettet wird.

Dies ist ein wichtiges Thema. Lesen Sie die Erweckungsgeschichte der Gemeinde, und Sie werden feststellen, dass in jenen Zeiten der Erweckung und des neuen Erwachens – ganz gleich, wann es auch gewesen sein mag – ein hervorstechendes Merkmal ausnahmslos die Ausübung von Gemeindezucht ist. In Erweckungszeiten und Phasen eines neuen Erwachens haben sich die leitenden Brüder in allen Bereichen der Gemeinde immer auch notwendigerweise um die Reinheit ihrer Gemeindeglieder gekümmert. Sie kehrten zum Neuen Testament zurück, und sie versuchten, einfach ein Leben in Übereinstimmung mit der biblischen Lehre zu führen. Die Heilige Schrift sagt uns, dass das Gefäß, das Werkzeug, das Mittel, das Gott gebraucht, ganz klar rein sein muss. Sie lehrt also nicht nur etwas über die »versammelte« Gemeinde, sondern auch über die »reine« Gemeinde. Wie kann eine Gemeinde, die in verschiedener Hinsicht mit der Welt vermischt ist, ein Kanal des Heiligen Geistes sein?! So etwas wäre beinahe undenkbar! Das dritte Kennzeichen der Gemeinde ist also die Gemeindezucht.


Ein Auszug aus dem Buch »Gott und seine Gemeinde«, 3L-Verlag.

 

D. Martyn Lloyd-Jones

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von Lucas Derksen Lesezeit: 9 min