Eine der großartigen Predigtreihen, die Martyn Lloyd-Jones hielt, war »Geistliche Krisen und Depressionen«1. Denn oft kamen Leute nach dem Morgengottesdienst zu ihm in sein kleines Büro in der Chapel. »Ich fühle mich heute sehr bedrückt, Herr Doktor«, sagten sie gelegentlich. Einige fragte er dann: »Wie steht es denn derzeit mit deiner Beziehung zu Gott? Liest du täglich deine Bibel und betest du regelmäßig? Wenn du alles vernachlässigst, kannst du dann wirklich erwarten, dass du dich glücklich fühlst? Deine Traurigkeit kommt daher, dass du sündigst.«
In manchen Fällen sagte er: »Weißt du, wir leben in einem geistlichen Kampf. Der Teufel will nicht, dass du in deinem Christenleben erfüllt und glücklich bist; also greift er dich an, damit du dich schlecht fühlst, um deine geistliche Wirksamkeit zu beeinträchtigen. Schau dir an, was die Heilige Schrift darüber sagt, wie man dem Teufel widersteht, wie Gott dir helfen kann, die geistliche Waffenrüstung anzulegen, die Er dir gegeben hat.«
»Das Christenleben ist kein einfaches Leben. Es ist ein Kampf, genau wie die Bibel es sagt.«
Bei anderen sagte er dagegen: »Eigentlich ist bei dir geistlich nichts verkehrt. Aber du solltest einen guten Arzt aufsuchen; denn was du hast, ist eine Form von psychischer Krankheit. Krankheit ist das Ergebnis davon, dass die Sünde in die Welt gekommen ist. Aber du bist jetzt krank, nicht wegen irgendwelcher Sünden, die du selbst begangen hast, sondern weil wir in einer gefallenen Welt leben.«
Wieder andere fragte er einfach: »Wann hattest du das letzte Mal einen schönen Urlaub? Du bist nicht depressiv. Gönn dir eine Pause, hol etwas Schlaf nach, und es geht dir bald wieder gut.«
Er stellte den Leuten immer viele Fragen: »Wie kam es dazu, dass du dich so fühlst? Wie ist dein Gebetsleben? Hältst du dich an Gottes Prinzipien für unser Leben? Möchtest du geistlich wachsen? Hast du Albträume? Hast du zu hart gearbeitet?«
Wir sind alle verschieden, alle komplex, jeder hat seine ganz eigenen Bedürfnisse und seine eigene Persönlichkeit. Das war ihm bewusst, und genauso auch, dass Gott uns alle unterschiedlich geschaffen hat.
Wenn du das Buch »Geistliche Krisen und Depressionen« liest, wirst du sehen, was ich meine. Es ist ein sehr realitätsnahes und nahrhaftes Buch.
Manchmal erwecken Menschen den Eindruck, dass man keine Probleme haben sollte oder dass man irgendwie nicht sehr geistlich sei, wenn man welche hat. Martyn ging nicht so mit den Menschen um. Auch er war manchmal niedergeschlagen und musste nach den Gründen suchen. War er müde? Hatte er gesündigt? War er traurig? Überarbeitet? Krank? Ich bin sicher, dass sich viele von euch schon einmal für längere Zeit niedergeschlagen oder traurig gefühlt haben, mehr als nur einen Nachmittag lang. Als ausgebildeter Arzt wusste Martyn über diese Dinge Bescheid. Er verstand die Menschen und ihre Gefühle; er verurteilte sie nicht, wenn sie traurig waren. Stattdessen half er ihnen herauszufinden, warum sie sich so fühlten.
Martyn sagte manchmal zu denjenigen, die ihn aufsuchten: »Man kann nicht einfach so davon loskommen. Manchmal ist die Ursache medizinisch bedingt. Aber manchmal lässt Gott es zu, dass der Teufel uns angreift, wie bei Hiob, damit wir geprüft und vorbereitet werden, weil Gott etwas wirklich Großes mit uns vorhat.«
Martyn erlebte selbst schwierige Zeiten in seinem Leben. Manchmal dauerte es eine Weile, bis es ihm wieder besser ging. Eine Person, die ihm half, war Stuart Catherwood. Die Familien Lloyd-Jones und Catherwood wurden Freunde, und das Ergebnis war einige Jahre später die Heirat zwischen Frederick Catherwood und Elizabeth Lloyd-Jones, meinen Eltern.
Die großen Dinge, die Gott für Martyn vorgesehen hatte, waren: erstens, die Arbeit in der Westminster Chapel fortzusetzen, und zweitens, mit Studenten zu arbeiten.
Viele von euch, die dieses Buch lesen, haben vielleicht ein Studium im Sinn oder haben Freunde oder Geschwister, die darüber nachdenken, an eine Uni zu gehen.
Oft bekommen Universitätsabsolventen nach ihrem Abschluss wichtige Jobs, in denen sie viele Menschen beeinflussen können: als Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler, Lehrer oder Theologen.
Einige meiner Freunde von der Universität üben jetzt wichtige Funktionen in der Gemeinde aus: als Pastoren, Missionare, Schriftsteller, Prediger und so weiter.
Viele von uns sind zum wahren Glauben an Jesus Christus gekommen, bevor wir an die Universität gingen. Für viele von uns war die Zeit an der Universität eine Zeit besonderer Herausforderungen, die zu geistlichem Wachstum führten und in der wir wichtige Dinge lernen mussten. Wir wurden unweigerlich vor die Frage gestellt: Glauben wir dem Wort Gottes? Was glauben wir genau? Leben wir das aus, was wir glauben? Wie sieht unser Glaubensleben in Alltagssituationen aus?
Wir werden noch sehen, wie wichtig dies für Martyns eigene Enkelkinder im Teenageralter war (wie auch für meinen Bruder, meine Schwester und für mich). Zuerst war es aber auch wichtig für Martyns und Bethans ältere Tochter Elizabeth, die nach dem Krieg drei Jahre lang an der Universität Oxford studierte.
»Ich möchte englische Literatur studieren«, entschloss sie sich.
Und Martyn ermutigte sie dazu, das zu tun. In ihrem Studium wurde Elizabeth von einigen sehr bekannten Leuten unterrichtet.
Eine Lehrerin ließ sie ein berühmtes mittelalterliches Gedicht lesen. Elizabeth entgegnete ihr: »Warum sollte ich das lesen? Es mag berühmt sein, aber ich finde es abstoßend.«
Natürlich fragte Elizabeth ihren Vater, was sie tun sollte. Seine Antwort war daraufhin: »Vergiss nicht, dass du es als Fachliteratur liest. Du bist dort, um akademisch zu studieren, und selbst wenn dir nicht alles gefällt, was du lesen musst, lernst du dadurch nachzudenken und das Gute zu behalten sowie Schlechtes zu verwerfen.«
Zu den Gottesdiensten, die in der Universitätskirche stattfanden, gingen Elizabeth und einige ihrer gläubigen Mitstudenten jedoch nicht, weil sie dachten, dass die Lieder dort Gott nicht verherrlichten. »Und die Predigten, die dort gehalten werden, sind manchmal auch sehr seltsam«, schrieb Elizabeth. Es waren nicht die christuszentrierten, auf der Schrift basierenden Predigten, die Elizabeth von ihrem Vater gewohnt war. Und sie war ziemlich auf sich allein gestellt, denn das alles geschah zu einer Zeit, als es noch sehr teuer war zu telefonieren, und lange bevor E-Mails erfunden wurden oder man überhaupt an solches dachte.
So nutzte Martyn die Zeit, wenn er mit den jungen Leuten arbeitete, ihnen das Wichtigste mitzugeben: »Wenn du ein Student oder Schüler bist, dann nur deshalb, weil Gott dir einen Verstand gegeben hat. Und du musst ihn auch benutzen! Es ist ein schlechtes Zeugnis für Nichtchristen, wenn christliche Schüler ihre Arbeit nicht richtig machen.« Natürlich kann man nur die Noten bekommen, zu denen man auch fähig ist. Elizabeth hatte sich die Worte ihres Vaters zu Herzen genommen und erstklassige Noten erreicht. »Wir müssen unseren Glauben mit unserem Studium verbinden und dürfen nicht versuchen, beides voneinander zu trennen«, pflegte er ihnen zu sagen.
Außerdem besteht der christliche Glaube nicht nur aus warmen Gefühlen, sondern er ist auch wahr und vernünftig. (Martyn vernachlässigte die Gefühle allerdings nicht. Wenn das Predigen, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, »feurige Logik« war, dann waren dabei auch jede Menge Gefühle im Spiel, wie wir später noch sehen werden.)
»Das wahre Christentum besteht aus vielen großartigen Glaubensüberzeugungen, die alle perfekt zusammenpassen«, erklärte er. Das ist es, was Christen als Lehre bezeichnen: die Zusammenfassung der biblischen Lehre zu einem einheitlichen Ganzen.
Eines Tages kam einer von Elizabeths Studienkollegen zum Tee. Dabei sah er die vielen alten Bücher in Martyns Bücherregalen.
»Das sind die Puritaner«, erklärte ihm Martyn.
Ein anderer Student, James I. Packer2, hatte ebenfalls die Bücher der puritanischen Autoren entdeckt.
»Viele Leute missverstehen die Puritaner«, erzählte Martyn ihnen. »Dabei waren sie eine wundervolle Gruppe von Christen, die im 16. und 17. Jahrhundert lebten. Viele denken, dass sie langweilig gewesen seien, eine Gesellschaft von Spaßverderbern. Ganz und gar nicht! Sie liebten den Herrn und das Leben. Sie hatten auch allen Grund dazu: Sie liebten die Dinge, die Gott ihnen gab, und das brachte sie dazu, sich am Leben richtig zu erfreuen.«
Die jungen Leute waren davon ganz begeistert.
»Lasst uns zusammenkommen und jedes Jahr die Puritaner studieren«, schlug Jim – wie James auch genannt wurde – vor.
Und das taten sie auch. Durch das Lesen dieser Bücher veränderte sich das Leben dieser jungen Leute. Martyn und Jim und viele andere trafen sich bis in die 1970er-Jahre einmal im Jahr. Das Treffen nannten sie »Puritan Conference«.
»Wir dürfen auch nicht vergessen«, erinnerte Martyn seine Zuhörer, »die Dinge so zu sehen, wie Gott sie sieht – wie sie in der Heiligen Schrift beschrieben sind.« Und die Puritaner hatten genau das auch getan.
Nachdem Elizabeth schon einige Jahre auf der Universität war, verließ auch Ann das Elternhaus. Die Lloyd-Jones’ waren eine sehr eng verbundene Familie. Martyn interessierte sich trotz der Entfernung sehr für alles, was seine Töchter taten – nichts war ihm zu unbedeutend oder unwichtig, was sie betraf. Ebenso war es ihm wichtig, die Gemeinde auch über diesen wichtigen Teil des Lebens zu belehren.
»In der Bibel steht, dass Kinder ihren Eltern gehorchen sollen«, sagte Martyn. Aber das war nicht alles … »Sie sagt auch, dass Väter ihre Kinder nicht zum Zorn reizen sollen, damit sie nicht unwillig werden.«
»Die Bibel sagt, dass die Ehefrauen sich ihren Männern unterordnen sollen; aber der Ehemann muss seine Frau so lieben, wie Christus die Gemeinde geliebt hat.« Schau mal, was Christus für die Gemeinde getan hat: Er hat Sein Leben am Kreuz für sie hingegeben. Das ist wahre Liebe!
»Das Christentum«, lehrte Martyn auch, »ist vernünftig. Gottes Gebote an uns sind nicht willkürlich, gemein oder ungerecht – sie sind immer vernünftig.« Unsere eigenen Eltern mögen ab und zu zornig oder unfreundlich werden. Aber Gott, unser himmlischer Vater, ist niemals unvernünftig. Er kennt uns! Seine Gebote sind nicht sinnlos. Er gab Seinen einzigen Sohn Jesus, um für die Sünden derer zu sterben, die an Ihn glauben. Das zeigt, wie sehr Gott Seine Gemeinde liebt.
Weiter betonte Martyn: »Das Christenleben besteht nicht einfach aus einer Reihe von willkürlichen Regeln. Es ist keine Liste voller ›Du sollst nicht‹, mit endlosen Verboten.« Viele Eltern machen lange Listen von Dingen, die wir nicht tun dürfen. Aber was passiert, wenn wir unsere Eltern nicht mehr haben und mit etwas konfrontiert werden, das nicht »auf der Liste« steht? Woher wissen wir dann, ob wir es tun dürfen oder nicht?
»Eltern müssen ihren Kindern biblische Prinzipien beibringen«, brachte Martyn daher seinen Zuhörern nahe. »Es ist nicht lediglich eine Frage von Regeln, sondern eine Frage deiner Beziehung zu Gott, deines Wunsches, Gott zu gefallen und zu tun, was Er will.« Regeln gibt es aus einem bestimmten Grund; sie wurden von unserem liebenden himmlischen Vater zu unserem Besten aufgestellt.
Das Einhalten der Regeln ist nicht etwas, das wir um der Regeln willen tun, sondern weil wir Gott lieben; denn Er hat uns zuerst durch Jesus geliebt. Darum geben wir die Regeln nicht auf, wenn wir das Haus verlassen. Wir halten sie ein, weil Gott bei uns ist, wohin wir auch gehen.
Als Christen müssen wir lernen, nach Prinzipien zu leben. Es gibt Dinge, die für uns einfach schädlich sind. Zum Beispiel gibt es Filme, die wir uns als Christen niemals ansehen sollten. Aber es gibt vielleicht auch Filme, die gut und lehrreich sind.
Natürlich mag es einfacher sein zu sagen: »Schau keine Filme an«, als zu sagen: »Finde heraus, welcher Film gut ist und welcher nicht«. Es kommt jedoch gemäß der Bibel besonders darauf an, aus welcher Motivation wir etwas tun. »Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles ist nützlich! Alles ist mir erlaubt – aber ich will mich von nichts beherrschen lassen!«, schreibt Paulus in 1. Korinther 6,12. Martyn stellte über sich selbst fest, dass es zur Sünde führen kann, gute Dinge zu tun, wenn man sie aus falschen Motiven, aus Eigennutz oder aus einem Gefühl des Stolzes auf die eigenen guten Leistungen heraus tut. Oder, wie man so scherzhaft sagt: »Bin ich nicht wunderbar, dass ich so bescheiden bin …?«
Deshalb müssen wir darüber nachdenken und ernsthaft beten und herausfinden, was Gott wirklich von uns will. Eines Tages stellte Elizabeth sich die Frage, ob sie nicht vielleicht Missionarin werden sollte. Manche Eltern würden vor Stolz platzen, wenn sie in der Gemeinde sagen könnten: »Meine Tochter ist Missionarin, wisst ihr. Deine hingegen arbeitet nur in einem Supermarkt. Na ja.«
Das ist wohl kaum ein guter Grund, um Missionar zu werden, oder? Martyn engagierte sich sehr für die Missionsarbeit, insbesondere für die China Inland Mission.
Doch andererseits wäre er auch sehr traurig gewesen, wenn seine ältere Tochter Tausende von Kilometern weit weg auf die andere Seite der Erde gegangen wäre, zumal das Reisen in jenen Tagen, als es noch keine Flugzeuge gab, wahrscheinlich bedeutet hätte, dass er sie jahrelang nicht mehr gesehen hätte.
Was für ein Dilemma! Aber er beschloss, Elizabeth denselben Rat zu geben, den er jedem in dieser Situation geben würde.
»Will Gott wirklich, dass du gehst?«, fragte er sie. »Lauf nicht herum und frage endlos viele Leute, ob du berufen seist. Das könnte dich nur verwirren. Nimm dir Zeit fürs Gebet und prüfe, ob deine Berufung wirklich von Gott kommt.«
Einige Christen meinen, dass diejenigen, die als Missionare ins Ausland gehen, irgendwie geistlicher seien als solche, die im eigenen Land missionarisch tätig sind, oder als treue Mütter, die ihre Kinder in der Gottesfurcht erziehen. Gott beruft Menschen gleichermaßen zu den verschiedensten Aufgaben. Christen neigen jedoch dazu, einige Aufgaben als wichtiger zu betrachten als andere. Gott tut das nicht.
Letztendlich ging Elizabeth nicht ins Ausland und wurde stattdessen Lehrerin. Sie war froh, dass sie auf den Rat ihrer Eltern gehört hatte und auf das, was Gott wollte, und nicht auf die Meinung derjenigen, welche die eine Aufgabe als wertvoller für Gott erachteten als eine andere.
1 Geistliche Krisen und Depressionen«, Samenkorn Verlag
2 Sein Buch »Gott erkennen« solltest du unbedingt einmal lesen.
Ein Auszug aus dem Buch:
Vom Arzt zum Prediger
Martyn war erst zehn Jahre alt, als er den Brand seines Elternhauses hautnah miterlebte. Er und seine ganze Familie konnten noch rechtzeitig gerettet werden, mussten dann aber mit ansehen, wie ihr Haus mitsamt dem Geschäft des Vaters, also ihre ganze Lebensgrundlage, restlos niederbrannte. Wo sollten sie nun wohnen? Wie sollten sie sich ernähren? – Alles war zerstört. Doch Gott sorgte für die Familie und hatte für Martyn eine besondere Lebensaufgabe.
In diesem Buch erzählt sein Enkel Christopher Catherwood von dem erstaunlichen Leben seines Großvaters Martyn Lloyd-Jones, der im Alter von sechzehn Jahren eine Ausbildung zum Arzt begann. Er war begabt und erfolgreich und wurde der Assistenzarzt des königlichen Leibarztes. Aber er gab alles auf, um Christus zu predigen. Warum tat er das? Es war Gottes Absicht, durch Martyns klare Verkündigung der biblischen Wahrheiten Gemeinden zur Bibel zurückzubringen. Martyn war voller Eifer und brannte für Gott, und er wurde nicht nur als treuer Prediger zum Vorbild, sondern auch als gottesfürchtiger und vorbildlicher Ehemann, Vater und Großvater.
Dieses Buch ist der sechste Band der Buchreihe »Glaubensvorbilder« für Kinder und Jugendliche.