Georg Müller (1805-1898) wird als einer der größten Männer des Gebets und des Glaubens betrachtet. Er lebte nahezu das gesamte 19. Jahrhundert und zwei Drittel davon in Bristol, England. Er hatte einige weitreichende, einflussreiche Dienste, doch kennen wir ihn heute am besten durch seine Waisenhäuser. Zu einer Zeit, als in England die meisten Waisenkinder in erbärmlichen Armenhäusern oder auf der Straße leben mussten, nahm Müller sie auf, gab ihnen zu essen, kleidete sie und unterrichtete sie in biblischen Wahrheiten. Im Vertrauen auf Gottes Güte und Führung übernahm Müller die Verantwortung für bis zu 2 000 Waisenkinder gleichzeitig – insgesamt für mehr als 10 000 während seines gesamten Lebens in seinem Waisenhaus in Bristol. Und doch machte er die Bedürfnisse für seinen Dienst niemals jemand anderem bekannt als nur Gott im Gebet. Erst durch seine Jahresberichte erfuhren die Menschen im Nachhinein, was während des vergangenen Jahres nötig gewesen war, und wie Gott sie versorgt hatte.
Müller hatte über 50 000 spezifische Gebetserhörungen in seinen Tagebüchern notiert; allein 30 000 davon wurden, wie er sagte, am selben Tag oder noch zur selben Stunde, in der er dafür gebetet hatte, beantwortet. Denk mal darüber nach: Das sind fünfhundert konkrete Gebetserhörungen jedes Jahr – mehr als eine pro Tag – an jedem einzelnen Tag, und das sechzig Jahre lang! Gott schleuste über eine halbe Milliarde Dollar (in heutigem Wert) durch seine Hände, als Antwort auf Gebet.
Müllers Beispiel
Wie hat Georg Müller gebetet? Er sagte, dass er in den ersten zehn Jahren seines Glaubenslebens oft darum kämpfte, in den Geist des Gebets zu gelangen, mit anderen Worten: wirklich auch zum Beten motiviert zu sein. Dabei bezog er sich nicht auf die Zeit, als er noch unbekannt war, sondern auf zehn Jahre des Vertrauens auf Gott und voller bemerkenswerter Gebetserhörungen. Dies änderte sich erst, als er an seiner Methode eine kleine Veränderung vorgenommen hat. Hier lesen wir, wie er diese Veränderung beschrieb:
»Der Unterschied nun zwischen meiner vorherigen Vorgehensweise und meiner jetzigen ist Folgender: Früher begann ich, nachdem ich aufgestanden war, so schnell wie möglich zu beten und verbrachte im Allgemeinen meine gesamte oder fast die gesamte Zeit bis zum Frühstück im Gebet. Auf jeden Fall begann ich fast ausnahmslos mit Gebet … Aber was war das Resultat? Ich verbrachte oft eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde oder sogar eine Stunde auf den Knien, bis ich mir bewusst war, Trost, Ermutigung, Demütigung der Seele usw. erlangt zu haben. Und oft begann ich erst dann wirklich zu beten, nachdem ich in den ersten zehn Minuten oder einer Viertelstunde oder sogar einer halben Stunde viel durch das Abschweifen der Gedanken gelitten hatte.
Damit quäle ich mich nun kaum noch herum. Da mein Herz, das durch die Wahrheit genährt wird, in Gemeinschaft mit Gott gebracht wurde, die auf Experimenten [heute würden wir sagen: auf Erfahrungen] mit Ihm beruht, spreche ich mit meinem himmlischen Vater und meinem Freund (obwohl ich abscheulich und dessen unwürdig bin) über die Dinge, die Er in Seinem kostbaren Wort vor mich gebracht hat. Jetzt erstaunt es mich oft, dass ich diesen Punkt nicht schon früher gesehen habe.«1
Also mühte sich Müller manchmal eine halbe bis ganze Stunde ab, versuchte zu beten und kämpfte darum, seine Gedanken zu sammeln und ein Verlangen nach Gebet in seinem Herzen zu erwecken. Erst nach einem solch langen, entschlossenen Kampf war er sich schlussendlich der Gemeinschaft mit Gott bewusst. Aber sobald er es sich zur Gewohnheit machte, mit Gott über das zu sprechen, was er im Wort Gottes fand, hatte er »kaum noch« diese Probleme während des Gebets.
Über eine Schriftstelle nachzudenken und zu beten, während er durch die Felder spazierte, war die unkomplizierte Methode, welche die tägliche Erfahrung eines der berühmtesten Männer des Gebets in der Geschichte veränderte. Und es kann dein Gebetsleben genauso leicht verändern.
Charles H. Spurgeon (1834-1892), der englische Baptistenprediger, der auch oft »der Fürst der Prediger«2 genannt wird, sagte in Bezug auf das Gebet Folgendes: »Wir sollen beten, wenn wir in einer Gebetsstimmung sind, denn es wäre Sünde, eine so gute Gelegenheit zu versäumen. Und wir sollen beten, wenn wir nicht in der rechten Stimmung sind, denn es wäre gefährlich, in einem so ungesunden Zustand zu verharren.« Und er hat recht. Wir sollten beten, wenn wir uns danach fühlen, und wir sollten beten, wenn wir uns nicht danach fühlen. Aber die Realität ist, so wie ich es in diesem Buch dargelegt habe, dass wir uns meistens, wenn wir ins Gebet gehen, nicht danach fühlen.
Wenn du beispielsweise morgens um 7:00 Uhr aufstehst und betest, dann ist dir an den meisten Tagen wahrscheinlich nicht nach Gebet zumute. Warum nicht? Weil du schläfrig bist! Du hast in den letzten paar Stunden nicht an Gott und die Dinge Gottes gedacht. Wenn es dir morgens nur im Entferntesten so geht wie mir, dann wachst du nicht sofort mit einem für Gott und Seine Sache brennenden Herzen auf. Ich persönlich neige morgens nach dem Aufstehen eher dazu, gegen die Türrahmen zu laufen. Wenn sogar Georg Müller morgens nach dem Aufstehen nicht nach Beten zumute war, dann sei nicht überrascht, dass dir nicht danach ist.
Die gute Nachricht ist, dass wir nicht von diesen Gefühlen beherrscht werden müssen. Gott sagte zu Jeremia: »Ist Mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR?« (Jer. 23,29). Wenn du anfängst zu beten und dein Herz fühlt sich geistlich gesehen eiskalt an, kannst du das Feuer von Gottes Wort nehmen und es in dein eisiges Herz hineinfallen lassen, indem du es liest und anhand einer Schriftstelle betest. Und schon sehr bald wird das Wort Gottes dein Herz für die Dinge Gottes erwärmen, und dir wird nach Gebet zumute sein.
Und nachdem ich nun seit mehr als dreißig Jahren fast jeden Tag auf diese Art bete, kann ich bezeugen, dass es in meinem Gebetsleben nichts gibt, was mein permanent kaltes Herz schneller und konsequenter entfacht, als das Beten mit der Bibel.
1 Roger Steer, »Georg Müller – Vertraut mit Gott«, CLV
2 C.H. Spurgeon »Der Fürst der Prediger«, VOH-Verlag, www.voh-shop.de
Ein Auszug auf dem Buch »Mit der Bibel beten« von Donald S. Whitney