»Ich erinnere euch aber, ihr Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe.«
1. Korinther 15,1
Ein Schriftsteller oder Prediger würde in Verlegenheit geraten, wenn er eine bessere Einführung in das Evangelium Jesu Christi anfertigen müsste als die, welche der Apostel Paulus der Gemeinde in Korinth gab (1.Kor. 15,1-4). In diesen wenigen Zeilen gibt er uns genug Wahrheit, durch die wir ein Leben lang genährt und nach Hause in die Herrlichkeit gebracht werden können. Allein der Heilige Geist kann einen Menschen dazu befähigen, so viel in nur wenigen Worten so klar mitzuteilen.
Das Evangelium kennen
In diesem kleinen Abschnitt der Heiligen Schrift finden wir eine Menge Wahrheit, die jeder von uns wiederentdecken muss. Das Evangelium ist nicht bloß eine einführende Botschaft ins Christentum – es ist die Botschaft des Christentums. Und der Gläubige würde gut daran tun, sein Leben dazu hinzugeben, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, die Herrlichkeit des Evangeliums zu erkennen und zu verkündigen.
Es gibt viele Dinge in dieser Welt, die man erkennen kann, und unzählige Wahrheiten im christlichen Glauben, die es zu erforschen gilt; und trotzdem stellt das »Evangelium der Herrlichkeit des glückseligen Gottes« und Seines Sohnes, des Herrn Jesus Christus, diese alle in den Schatten (1.Tim. 1,11). Denn das Evangelium ist die Botschaft von unserer Erlösung, das Mittel für unser Wachstum in der Heiligung und die reine Quelle, aus der jeglicher reine und rechte Antrieb für das Leben als Christ hervorströmt. Einem Gläubigen, der bereits ein wenig von seinem Inhalt und Charakter verstanden hat, wird es niemals an Leidenschaft dafür mangeln, noch wird er danach trachten, Kraft aus löchrigen Zisternen ohne Wasser zu schöpfen, die von Menschenhänden gemacht sind (Jer. 2,13; 14,3).
1. Korinther 15,1 macht deutlich, dass der Apostel das Evangelium der Gemeinde in Korinth bereits gepredigt hatte. Genau genommen war er ihr Glaubensvater (1.Kor. 4,15). Dennoch hielt er es für äußerst notwendig, damit fortzufahren, sie im Evangelium zu unterweisen – nicht allein, um sie an seine grundlegenden Bestandteile zu erinnern, sondern um ihre Erkenntnis darüber zu erweitern. Mit ihrer Bekehrung hatten sie lediglich eine Entdeckungsreise begonnen, die ihr ganzes Leben umfassen, sie durch die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurchführen und sie die Herrlichkeiten Gottes im Evangelium Jesu Christi entdecken lassen würde.
Es wäre weise, wenn sowohl wir als Prediger und auch alle Christen das Evangelium durch die Augen dieses alten Apostels neu betrachten und für würdig erachten würden, es ein Leben lang sorgfältig zu erforschen. Auch wenn wir bereits viele Jahre im Glauben gelebt haben, wenn wir den geistlichen Verstand eines Edwards besitzen und die Einsicht eines Spurgeon haben, wenn wir jeden das Evangelium betreffenden Bibeltext auswendig gelernt und alle Veröffentlichungen der alten Kirchenväter, der Reformatoren, der Puritaner bis hin zu den Gelehrten unserer Zeit verdaut haben – auch dann können wir uns sicher sein, dass wir noch nicht einmal den Fuß dieses Berges erreicht haben, den wir das Evangelium nennen. Selbst nach einer Ewigkeit der Ewigkeiten wird das Gleiche für uns gelten!
Wir leben in einer Welt, die uns eine fast unbegrenzte Anzahl an Möglichkeiten anbietet und in der unzählige Optionen um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Das Gleiche kann auch über das Christentum gesagt werden und über die große Auswahl an theologischen Themen, mit denen sich ein Student befassen könnte. Es gibt eine fast unbegrenzte Zahl an biblischen Wahrheiten, die ein Mensch ein Leben lang erforschen könnte. Allerdings stellt ein Thema alle anderen Themen in den Schatten und ist für das rechte Verständnis aller anderen biblischen Wahrheiten grundlegend: das Evangelium Jesu Christi. Diese eine Botschaft ist die größte Offenbarung der Kraft Gottes in der Gemeinde und im Leben jedes einzelnen Gläubigen.
Wenn wir Berichte aus der Kirchengeschichte durchlesen, sehen wir Männer und Frauen mit ungewöhnlicher Leidenschaft für Gott und Sein Reich. Wir sehnen uns danach, ihnen zu gleichen, und wundern uns, wie sie dazu gekommen sind, mit solch anhaltendem Feuer zu wirken. Wir stellen nach der sorgfältigen Betrachtung ihres Lebens, ihrer Lehre und ihres Dienstes fest, dass sie sich zwar in vielen Dingen unterscheiden, aber dass es unter ihnen einen gemeinsamen Nenner gab: Sie erhaschten alle einen Blick von der Herrlichkeit des Evangeliums, dessen Schönheit ihre Leidenschaft entfachte und sie antrieb. Ihr Leben und ihr Erbe beweisen: Echte und anhaltende Leidenschaft hat ihren Ursprung in einer ständig zunehmenden, ständig sich vertiefenden Erkenntnis von dem, was Gott für Sein Volk in der Person und dem Werk Jesu Christi getan hat. Für diese Erkenntnis gibt es keinen Ersatz!
Der Begriff Evangelium stammt von dem griechischen Wort eu angélion ab, das »Gute Botschaft« bedeutet. Aus diesem Grund werden die Bibelgläubigen oft »Evangelikale« genannt. Wir sind Christen, weil wir unsere Identität, unser Leben und unsere Bestimmung in Christus finden. Wir sind evangelikal, weil wir an das Evangelium glauben und es als die große zentrale Wahrheit der Offenbarung Gottes an die Menschen betrachten. Es ist kein Vorwort oder Nachsatz. Es ist nicht nur der einleitende Unterricht über den christlichen Glauben. Es ist das gesamte Studium. Es ist die Geschichte unseres Christenlebens, der unerforschliche Reichtum, den wir zu erforschen suchen, und die Botschaft, die wir ausleben, um sie damit zu verkünden. Aus diesem Grund sind wir nur dann christlich und evangelikal, wenn das Evangelium Jesu Christi unsere einzige Hoffnung, unser einziges Rühmen und unsere einzige großartige Leidenschaft ist.
Die heutigen Evangelikalen planen so viele Konferenzen – besonders für unsere Jugend – mit der Absicht, die Leidenschaft des Gläubigen durch Gemeinschaft, Musik, redegewandte Sprecher, emotionale Geschichten und leidenschaftliche Appelle zu wecken. Welche Art Leidenschaft sie dadurch jedoch auch immer erschaffen, sie flaut häufig sehr schnell wieder ab. Schlussendlich bilden diese Erfahrungen nur kleine Feuer in glaubensschwachen Herzen, die schon in wenigen Tagen ausgebrannt sind.
Wir haben vergessen, dass echte und anhaltende Leidenschaft aus tiefgründiger Erkenntnis der Wahrheit geboren wird, besonders der Wahrheit des Evangeliums. Je mehr wir seine Schönheit erkennen oder begreifen, desto mehr wird uns seine Kraft erfassen. Schon ein flüchtiger Blick auf das Evangelium wird einen wirklich Wiedergeborenen zur Nachfolge Jesu bewegen. Jeder tiefere Blick wird seine Glaubensschritte beschleunigen, bis er unbeirrt dem Kampfpreis nachjagt (Phil. 3,13-14). Das Herz eines echten Christen kann einer solchen Schönheit nicht widerstehen. Darin liegt die große Not heute – das ist es, was wir verloren haben und zurückgewinnen müssen: eine Leidenschaft dafür, das Evangelium zu erkennen, und die gleiche Leidenschaft dafür, das Evangelium zu verkünden!
Das Evangelium verkündigen
Der Apostel Paulus war eines der großartigsten menschlichen Werkzeuge des Reiches Gottes in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte der Erlösung. Er war im ganzen römischen Imperium in einer Zeit fast unvergleichlicher Verfolgung für die Ausbreitung des Evangeliums verantwortlich, und er ist ein herausragendes Beispiel dafür, was es bedeutet, ein christlicher Leiter zu sein. Dennoch erreichte er all dies lediglich durch die einfache Verkündigung der anstößigsten Botschaft, die jemals die Ohren der Menschen erreicht hat.
Paulus war ein außergewöhnlich begabter Mensch, besonders im Hinblick auf seinen Intellekt und Eifer. Trotzdem lehrte er selbst, dass die Kraft seines Dienstes nicht in seiner Begabung lag, sondern in der treuen Verkündigung des Evangeliums. In seinem ersten Brief an die Korinther schreibt Paulus sein großes Dementi: »Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen, [und zwar] nicht in Redeweisheit, damit nicht das Kreuz des Christus entkräftet wird … Während nämlich die Juden ein Zeichen fordern und die Griechen Weisheit verlangen, verkündigen wir Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, sowohl Juden als auch Griechen, [verkündigen wir] Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit« (1.Kor. 1,17.22-24).
Der Apostel Paulus war vor allem anderen ein Prediger. Wie zuvor Jeremia, sah er sich innerlich dazu gedrungen, zu predigen. Das Evangelium war wie ein brennendes Feuer, das in seinen Gebeinen eingeschlossen war, das er nicht aushalten konnte, ohne es zu bezeugen (Jer. 20,9). Den Korinthern verkündete er: »Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet« (2.Kor. 4,13). Und: »Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigen würde!« (1.Kor. 9,16). Solch eine hohe Wertschätzung der Verkündigung des Evangeliums kann man nicht vortäuschen, wenn sie nicht im Herzen des Predigers existiert, noch kann sie verborgen bleiben, wenn sie existiert.
Allen Menschen gilt der Ruf Gottes, die Bürde der Botschaft des Evangeliums auf sich zu nehmen. Einige Träger desselben sind ernsthafter, während andere fröhlicher sind. Aber wenn sich das Gespräch dem Evangelium zuwendet, verändert sich das Angesicht eines Predigers, und es scheint uns, als würde plötzlich eine völlig andere Person vor uns stehen. Die Ewigkeit hat sein Gesicht angestrahlt, der Schleier ist weggenommen und die Herrlichkeit des Evangeliums leuchtet mit reiner Leidenschaft hervor. Ein solcher Mensch hat wenig Zeit für kuriose Geschichten, moralische Ratschläge oder für das bloße Mitteilen der Gedanken seines eigenen Herzens. Er ist gekommen, um zu predigen, und er muss predigen! Er kann nicht ruhen, bis die Menschen von Gott gehört haben. Wenn Abrahams Knecht nicht essen konnte, bis er die Sache seines Herrn verkündet hatte (1.Mo. 24,33), wie viel weniger kann der Prediger des Evangeliums ruhig dasitzen, solange er nicht den Schatz des Evangeliums, der ihm anvertraut wurde, verkündet hat (Gal. 2,7; 1.Thess. 2,4; 1.Tim. 1,11; 6,20; 2.Tim. 1,14; Tit. 1,3).
Auch wenn wenige dem widersprechen würden, was wir bisher gesagt haben, hat es größtenteils den Anschein, dass solch ein leidenschaftliches Predigen aus der Mode gekommen ist. Viele würden es damit erklären, dass es eben heute an Feinheit und Eleganz mangelt, die notwendig sind, um in diesem modernen Zeitalter erfolgreich zu sein. Der postmoderne Mensch, der ein bisschen mehr »Demut« und Toleranz für andere Sichtweisen bevorzugt, betrachtet einen leidenschaftlichen Prediger, der offen und unverfroren die Wahrheit verkündet, geradezu als ein Hindernis. Die Meinung der Mehrheit ist, dass wir einfach die Art, wie wir predigen, ändern müssten, gerade deshalb, weil das Evangelium der Welt als töricht erscheint.
Solch eine Einstellung gegenüber dem Predigen des Evangeliums ist ein Beweis dafür, dass wir in der Christenheit unsere Orientierung verloren haben. Es ist Gott Selbst, der die »Torheit der Verkündigung« als Mittel verordnet hat, um der Welt die rettende Botschaft des Evangeliums zu bringen (1.Kor. 1,21). Das heißt nicht, dass das Predigen töricht, unlogisch oder absonderlich sein soll. Die Schrift ist jedoch der Maßstab für alles Predigen – und nicht die gegenwärtigen Ansichten einer gefallenen und verdorbenen Kultur, die weise in ihren eigenen Augen ist und empfindliche Ohren hat und lieber ihr Herz der Unterhaltung widmet, als dass sie das Wort des Herrn hört (Röm. 1,22; 2.Tim. 4,3).
Wohin der Apostel Paulus auch reiste, predigte er das Evangelium, und wir würden gut daran tun, seinem Beispiel zu folgen. Auch wenn das Evangelium durch viele Mittel verbreitet werden kann, gibt es doch kein Mittel, das so gottgewollt ist wie das Predigen. Daher würden jene, die ständig nach innovativen Mitteln suchen, um das Evangelium einer neuen Generation von Suchenden zu vermitteln, gut daran tun, wenn sie ihre Suche in der Heiligen Schrift beginnen und beenden würden. Jene, die Tausende von Umfragen verschicken und Unbekehrte danach fragen, was sie sich am meisten in einem Gottesdienst wünschen, sollten begreifen, dass zehntausend übereinstimmende Ansichten von fleischlichen Menschen nicht die Autorität über einen Buchstaben noch ein einziges Strichlein von Gottes Wort haben (Mt. 5,18). Wir müssen verstehen, dass es eine große Kluft von unüberbrückbaren Differenzen gibt zwischen dem, was Gott in der Heiligen Schrift angeordnet hat, und was sich unsere gegenwärtige Kultur wünscht.
Es sollte uns nicht verwundern, dass fleischliche Christen Unterhaltung, Musik und Medien anstelle der Verkündigung des Evangeliums und biblischer Auslegung wünschen. Solange Gott nicht das Herz eines Menschen erneuert hat, wird dieser Mensch auf das Evangelium in gleicher Weise reagieren wie die Dämonen in dem Gergesener auf den Herrn Jesus Christus: »Was haben wir mit Dir zu tun, …?« (Mt. 8,29). Der natürliche Mensch kann, getrennt von dem erneuernden Werk des Heiligen Geistes, kein wahres Interesse am Evangelium und keine Wertschätzung desselben haben; und dennoch geschieht dieses Wunder im Herzen eines Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums, welches er anfangs so verachtete.
Deswegen müssen wir den Menschen genau diese Botschaft verkündigen, die sie nicht hören wollen, und der Geist muss Sein Werk tun! Ohne dieses kann ein Sünder genauso wenig Schönheit im Evangelium finden wie Säue an Perlen, oder wie ein Hund Ehrfurcht empfindet vor geheiligtem Fleisch oder wie ein Blinder einen Künstler wie Rembrandt schätzen kann (Mt. 7,6). Prediger dienen den Menschen nicht dadurch, dass sie ihnen genau das bieten, was ihre gefallenen Herzen wünschen, sondern indem sie ihnen wahre Speise vorlegen, bis sie es durch das übernatürliche Werk des Heiligen Geistes als solches anerkennen und schmecken und sehen, »wie freundlich der HERR ist« (Ps. 34,9; Jes. 55,1-2; Ps. 34,9).
Bevor wir diese kurze Erörterung über die Verkündigung des Evangeliums abschließen, müssen wir noch eine letzte Sache ansprechen. Manche vertreten die Theorie, dass unsere gegenwärtige Kultur die Art von Predigt, die in den großen Erweckungen der Vergangenheit so wirksam war, nicht tolerieren könne. Die Predigt von Jonathan Edwards, George Whitefield, Charles Spurgeon und anderen gleichgesinnten Predigern würde heute verlacht, verhöhnt und verspottet werden. Diese Theorie scheint jedoch nicht zu berücksichtigen, dass die Menschen diese Prediger zu ihrer Zeit ebenfalls verlachten und verhöhnten! Die wahre Verkündigung des Evangeliums wird immer für alle Kulturen eine Torheit sein. Jeder Versuch, diesen Anstoß zu beseitigen und das Predigen »zeitgemäß« zu machen, verringert die Kraft des Evangeliums. Er vereitelt auch die Absicht, für die Gott das Predigen auswählte, nämlich als Mittel zur Erlösung von Menschen – damit die Hoffnung des Menschen nicht auf Raffinesse, Redegewandtheit und menschlicher Weisheit beruhe, sondern auf der Kraft Gottes (1.Kor. 1,27-30; 2,4-5).
Wir leben in einer Kultur, die von der Sünde gebunden ist wie mit Ketten aus Eisen. Moralgeschichten, originelle Lebensweisheiten und Erfahrungen, die aus dem eigenen Herzen eines beliebten Predigers oder geistlichen Life-Coaches (Lebensberaters) mitgeteilt werden, haben keine wirkliche Kraft gegen solche Finsternis. Wir brauchen Prediger des Evangeliums Jesu Christi, welche die Heilige Schrift kennen und durch Gottes Gnade jeder Kultur mit dem Ruf entgegentreten können: »So spricht der Herr!«
Entnommen aus dem Buch »Die Kraft der Evangeliumsbotschaft«, 3L Verlag