D. Martyn Lloyd-Jones
In seinen Vorträgen über die Predigtvorbereitung spricht Martyn Lloyd-Jones von der überaus großen Bedeutung der Predigt und erklärt, dass sie der primäre Auftrag und die wichtigste Aufgabe der Gemeinde ist. Doch wer sollte predigen, und welche Anforderungen stellt das Wort Gottes an einen Prediger?
Wer sollte predigen?
Als erste Regel möchte ich betonen, dass ganz eindeutig nicht alle Christen predigen sollten, und dass nicht einmal alle christlichen Männer dies tun sollten, noch weniger die Frauen. Wir müssen darüber nachdenken, wer wirklich zum Predigen berufen ist. Seit mehr als hundert Jahren wurde die Sichtweise angenommen, dass das Predigen fast jedem Mann, der Christ geworden ist – und später auch den Frauen – erlaubt sei. Davor gab es eine solche Praxis relativ selten; aber inzwischen ist sie ganz üblich geworden. Es ist beachtenswert, dass diese Veränderung einmal mehr theologische Ursachen hatte. Es war der Wandel im letzten Jahrhundert von einer reformierten und bibeltreuen Haltung zu einer im Grunde arminianischen oder auch liberalen, welche die Zunahme der »Laienpredigt« verursachte. Mit Laienpredigt meine ich, dass fast jeder Mann die Kanzel betreten und lehren darf.
Ich behaupte, dass dies eine unbiblische Sichtweise der Verkündigung ist. Es gibt sicher außergewöhnliche Umstände, wo dies notwendig sein mag; dann würde ich aber in Frage stellen wollen, ob es sich dabei dann tatsächlich um eine »Laienpredigt« handelt. Was ich mit außergewöhnlichen Umständen meine, ist, dass es sehr wohl der Fall sein kann, dass die Gemeinde nicht in der Lage sein mag, einen Prediger im vollzeitlichen Dienst, und zwar insbesondere im Dienst der Verkündigung, zu unterhalten. Die moderne Auffassung der Laienpredigt ist, dass dies die normale Praxis und nicht die Ausnahme sein sollte, und dass ein Prediger ein Mann sei, der seinen Lebensunterhalt in einem Beruf verdiene und quasi in seiner Freizeit predige.
Die außergewöhnliche Position, die ich allerdings im Blickfeld habe, ist die eines Mannes, der sich zum Dienst berufen fühlt und der gern seine ganze Zeit damit verbringen würde, für den dies jedoch wegen der Umstände, die ich beschrieben habe, unmöglich ist. Er sehnt sich nach dem Tag, an dem die Gemeinde finanziell und in anderer Hinsicht stark genug sein wird, ihn zu unterhalten, so dass er seine ganze Zeit diesem Dienst widmen kann. Deshalb würde ich ihn streng genommen nicht einen Laienprediger nennen; er ist ein Mann, der im Augenblick seinen Lebensunterhalt zum Teil dadurch bestreiten muss, dass er irgendwo arbeitet, um sein Predigen zu ermöglichen.
Nun geht es mir darum, die Auffassung zu untersuchen, dass jeder Mann, der ein Christ ist, predigen könne und predigen solle. Es gibt wohl Gruppierungen in der Christenheit, die dies ständig gelehrt haben. Es gab den Slogan: »Gebt dem Neubekehrten etwas zu tun; sendet ihn aus, um zu predigen und sein Zeugnis zu geben!«, usw. Es bestand diese Tendenz, Menschen regelrecht zum Predigen zu zwingen. Vieles davon kann dem Einfluss von Charles Finney und D.L. Moody zugeschrieben werden, die es für eine besonders gute Idee hielten, den Neubekehrten »etwas zu tun zu geben«.
Aus welchem Grund stehen wir dieser Haltung zum Predigtdienst kritisch gegenüber? Ich denke, dass sie daraus entsprang, dass man keinen Unterschied machte zwischen der Aufforderung an jeden Christen, »bereit [zu sein] zur Verantwortung gegenüber jedermann, der Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in [ihm] ist«, wie Petrus es in 1. Petrus 3,15 formuliert, und dem missverstandenen Gedanken, dass jeder Christ das Evangelium verkündigen sollte. Gewiss sollte jeder Christ erklären können, warum er ein Christ ist; doch das bedeutet nicht, dass jeder Christ predigen sollte.
Dieser Unterschied kommt auf überaus interessante Weise in Apostelgeschichte 8,4-5 zum Ausdruck. Dort erfahren wir im ersten Vers, dass eine große Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem entstand, und dass außer den Aposteln alle Glieder der Gemeinde zerstreut wurden. Dann lesen wir in den Versen 4 und 5: »Die Zerstreuten nun gingen umher und verkündigten das Wort. Philippus aber ging hinab in eine Stadt Samarias und predigte ihnen den Christus« (ELB). Manche Übersetzungen haben in beiden Fällen das Wort »verkündigen« benutzt. Im Grundtext jedoch wurde nicht in beiden Versen dasselbe Wort verwendet, und das ist der entscheidende Unterschied. Was »die Zerstreuten« taten, kann man, wie jemand vorschlug, mit »besprachen das Wort«, redeten miteinander darüber, übersetzen. Philippus dagegen tat etwas anderes: Er »predigte ihnen den Christus«. Es ist wichtig, dass ein solcher Unterschied im vorliegenden Text gemacht werden sollte.
Unser Standpunkt ist also, dass jeder Christ fähig sein sollte, das zu tun, was im vierten Vers angedeutet wird, dass aber nur einzelne berufen sind, das zu tun, was im fünften Vers beschrieben wird. Im Neuen Testament wird dieser Unterschied ganz deutlich gemacht; daraus geht hervor, dass nur bestimmte Leute dazu ausgesondert und berufen sind, in der Gemeinde die Botschaft zu predigen. Das ist nämlich den Ältesten vorbehalten, und auch nur einigen von ihnen, nämlich den lehrenden Ältesten – den Ältesten, die die Gabe des Lehrens empfangen haben, d. h. den Pastoren und den Lehrern (1.Tim. 5,17). Es ist deutlich, dass das Predigen im Neuen Testament auf die Apostel, die Propheten, die Evangelisten und jene anderen erwähnten Personen beschränkt war (Eph. 4,11-12).
Warum ist dies meines Erachtens so wichtig? Was ist letztlich die Kritik an der so genannten »Laienpredigt«? Die Antwort läuft darauf hinaus, dass dabei von einer »Berufung« überhaupt nicht die Rede zu sein scheint. Es gibt auch noch andere Gründe, die meiner Beurteilung nach gegen diese Idee zu sprechen scheinen. Mein Hauptargument ist, dass ein Prediger nicht lediglich ein Mann ist, der dazu berufen wurde, sondern dessen ganze Zeit davon beansprucht ist.
Das Predigeramt ist nicht etwas, das man sozusagen nebenbei ausüben kann. Das ist ein verkehrter Ansatz und dazu eine falsche Haltung. Wir wollen dies zunächst im Sinne dieser Frage der Berufung betrachten.
Was ist der Prediger?
Nun, offensichtlich ist der Prediger ein Christ wie jeder andere Christ. Das ist grundlegend und absolut unerlässlich. Doch er ist noch etwas mehr; und gerade hier stellt sich die Frage nach einer Berufung. Ein Prediger ist nicht jemand, der sich einfach dazu entscheidet, zu predigen; und genauso wenig, wie er sich dazu entscheidet, zu predigen, entscheidet er sich, den Predigtdienst als seine Berufung anzunehmen.
Ich brauche kaum zu sagen, dass eine solche Meinung völlig falsch ist und dem Bild, das man in der Bibel erkennt und auch in den Biografien der großen Prediger über die Jahrhunderte hinweg sieht, völlig widerspricht.
Die Antwort auf diese falsche Auffassung ist, dass das Predigtamt niemals etwas ist, das ein Mensch selbst auszuüben beschließt. Vielmehr geschieht es, dass er sich seiner »Berufung« bewusst wird. Die ganze Frage der Berufung ist keine leichte Angelegenheit, und alle Diener des Wortes haben mit ihr gerungen, weil sie für uns von so entscheidender Bedeutung ist.
Die Berufung zum Prediger
»Bin ich zum Prediger berufen oder nicht? Wie kann ich das wissen?«
Ich möchte nahelegen, dass es dafür gewisse Kriterien gibt. Eine Berufung vollzieht sich meistens in Form eines Bewusstseins im eigenen Geist. Es beginnt mit einem Sich-Bewusstwerden, einer Art innerem Druck, der auf Ihrem Geist lastet, einer Unruhe in Ihrem Geist, und dann bemerken Sie, dass Ihre Gedanken ganz auf die Frage des Predigens gerichtet werden. Es ist nicht so, dass Sie es bewusst geplant und sich dann nach einer Weile des Nachsinnens dazu entschieden hätten, dieses Amt anzunehmen. Es ist stattdessen etwas, das mit Ihnen geschieht; Gott handelt dabei durch Seinen Heiligen Geist an Ihnen. Sie werden sich der Berufung bewusst, ohne überhaupt etwas diesbezüglich unternommen zu haben. Sie werden innerlich dazu gedrängt. Auf diese Weise wird Ihnen die Berufung ständig vor Augen geführt.
Aber manchmal wird das Bewusstwerden dieser Berufung durch andere geweckt; oder eventuell wird das, was im Bereich des Geistes geschieht, durch andere bestätigt, die vielleicht mit Ihnen reden und Ihnen Fragen stellen. Auf diese Weise sind sehr oft Männer zu Predigern berufen worden. In vielen Biographien werden Sie lesen, dass ein junger Mann, der nie ans Predigen gedacht hatte, von einem Ältesten oder einem anderen geistlichen Mitbruder aus der Gemeinde angesprochen wurde, der ihm die Frage stellte: »Meinst du nicht, dass du vielleicht zum Prediger des Evangeliums berufen bist?« Der Fragesteller gibt dann seine Gründe für diese Annahme an. Er hat Sie beobachtet und sah sich dazu geführt, Sie darauf anzusprechen. Er ist vielleicht das Werkzeug zu diesem ersten Schritt. Meine Erfahrung ist, dass diese beiden Dinge meistens miteinander einhergehen.
Dann entwickelt sich dies weiter und führt zu einer Sorge um andere. Dies stelle ich der nur allzu gängigen Vorstellung gegenüber, dass man in den Dienst des Wortes einfach so eintreten könne, als ob man einen Beruf oder »eine Berufung« aufnähme. Zur wahren Berufung gehört immer eine Sorge um andere, ein Interesse an ihnen, ein Erkennen ihres verlorenen Zustandes und ein Verlangen, etwas für sie zu tun, ihnen die Botschaft mitzuteilen und sie auf den Weg des Heils hinzuweisen. Dies ist ein unerlässlicher Bestandteil der Berufung; und dies ist insbesondere ein passender Prüfstein, anhand dessen wir uns selbst prüfen können.
Es geschieht oft, dass junge Männer, die einem großen Prediger zuhören, von seiner Persönlichkeit oder von seiner Redegewandtheit ergriffen sind. Sie sind von ihm bewegt worden, und unbewusst beginnen sie, den Wunsch zu hegen, ihn nachzuahmen und das zu tun, was er tut. Das kann einerseits richtig, manchmal aber auch ganz verkehrt sein. Sie könnten lediglich von dem Glanz seiner Verkündigung fasziniert und von der Idee angezogen sein, ein großes Publikum anzusprechen und diese Menschen zu beeinflussen. Alle möglichen verkehrten und falschen Motive können sich einschleichen. Man kann sich vor solch einer Gefahr schützen, indem man sich die Frage stellt: Warum möchte ich dies tun? Warum kümmere ich mich darum? Und wenn man keine echte Sorge um andere und ihre Stellung und ihren Zustand hat und nicht das Verlangen bei sich entdecken kann, ihnen zu helfen, ist es völlig berechtigt, seine eigenen Motive zu hinterfragen.
Aber wir müssen noch auf etwas Tiefliegenderes zu sprechen kommen: Man muss sich auch dazu gedrungen fühlen. Das ist sicher die Feuerprobe. Es bedeutet, dass Sie das Gefühl haben, einfach nichts anderes tun zu können. Es war Charles H. Spurgeon, der, wie ich meine, zu jungen Männern zu sagen pflegte: »Wenn ihr irgendetwas anderes tun könnt, dann tut das. Wenn ihr außerhalb des Amtes bleiben könnt, dann bleibt außerhalb davon.« Das würde ich sicherlich ohne jede Einschränkung auch sagen. Ich würde sagen, dass der Einzige, der zum Predigen berufen ist, jener Mann ist, der nichts anderes tun kann – in dem Sinne, dass er mit nichts anderem zufrieden ist. Diese Berufung zum Predigen ist ihm so auferlegt und übt einen solchen Druck auf ihn aus, dass er sagt: »Ich kann nichts anderes tun; ich muss einfach predigen.«
Oder lassen Sie es mich so formulieren – und ich spreche hier aus persönlicher Erfahrung: Sie sind sich der Berufung sicher, wenn Sie unfähig sind, sie zurückzudrängen und ihr zu widerstehen. Sie versuchen Ihr Äußerstes, um dies zu tun. Sie sagen: »Nein, ich werde mit dem, was ich tue, fortfahren; ich bin fähig, dies zu tun, und es ist eine gute Arbeit.« Sie versuchen Ihr Äußerstes, um diese Unruhe, die auf unterschiedliche Weise von Ihrem Geist Besitz zu ergreifen sucht, zurückzudrängen, und schließlich erreichen Sie einen Punkt, an dem Sie es nicht mehr aushalten. Es wird Ihnen zu einer Leidenschaft, die so überwältigend ist, dass Sie am Ende sagen: »Ich kann nichts anderes tun, ich kann nicht länger widerstehen.«
Das ist, so wie ich es verstehe, mit einer Berufung zum Predigtamt gemeint. Aber wir wollen diese noch weiter an etwas untersuchen, das genauso wichtig ist. Ich habe bereits darauf hingewiesen, und was ich meine, ist, dass in Ihnen ein Empfinden Ihrer Schüchternheit, Ihrer eigenen Unwürdigkeit und ein Empfinden Ihrer Unzulänglichkeit vorhanden sein sollte. Man kann nirgends bessere Ausdrücke finden als die, welche Paulus in 1. Korinther 2,3 nennt: »Schwachheit«, »viel Furcht und Zittern«. Denselben Gedanken wiederholt er in 2. Korinther 2,16 mit der Frage: »Und wer ist hierzu tüchtig?« Die Lehre des Paulus über die Berufung Gottes zu diesem besonderen Werk führt ganz unweigerlich zu dieser Frage. Er formuliert es so:
»Gott aber sei Dank, der uns allezeit in Christus triumphieren lässt und den Geruch Seiner Erkenntnis durch uns an jedem Ort offenbar macht! Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch des Christus unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die verlorengehen; den einen ein Geruch des Todes zum Tode, den anderen aber ein Geruch des Lebens zum Leben. Und wer ist hierzu tüchtig?« (2.Kor. 2,14-16)
Wenn wir begreifen, dass diese Geisteshaltung in der Predigt vorhanden sein sollte, dann muss sich ein Mann zwangsläufig unwürdig und unzulänglich fühlen. Er ist also nicht nur zögerlich, sondern er hinterfragt und untersucht auch seine Empfindungen; er nimmt sie sehr sorgfältig unter die Lupe; er tut sein Äußerstes, um den inneren Drang zum Predigen zurückzudrängen.
Dies alles betone ich, weil in unserer Zeit kaum noch darüber gesprochen wird. Es ist auch mein letztes Argument gegen die Idee der Laienpredigt. Nehmen Sie solch einen Mann, der sich selbst zum Predigen aufstellt und nicht zögert, auf eine Kanzel zu steigen und zu predigen, und der behauptet, dass er dies quasi nebenbei »in seiner Freizeit« tun könne. Was weiß er von Schwachheit, viel Furcht und Zittern? Es ist leider genau das Gegenteil der Fall; er ist in seinem Selbstvertrauen überaus kritisch und sogar verächtlich gegenüber anderen Predigern eingestellt, die in Schwachheit, viel Furcht und Zittern predigen. Obwohl diese Prediger nichts anderes zu tun haben, sind sie seiner Meinung nach elende Versager; aber er kann praktisch nebenbei predigen! Genau das widerspricht völlig dem, was wir bei dem großen Apostel sehen und was auch bei den größten Predigern der Kirchengeschichte in allen darauffolgenden Jahrhunderten der Fall war.
Tatsächlich scheint es allgemein der Fall zu sein, dass ein Prediger, je größer er war, um so zögerlicher damit umging, selbst zu predigen. Oftmals mussten solche Männer von Dienern des Wortes, Ältesten und anderen erst dazu gedrängt werden, weil sie nämlich so sehr vor der großen Verantwortung zurückschreckten. Dies traf bei George Whitefield zu, einem der größten Prediger, der jemals eine Kanzel geziert hat; und genau so traf es bei anderen zu. Mein Argument ist daher, dass ein Mann, der meint, er sei kompetent und könne dies mühelos tun, und der so ohne jedes Empfinden von Furcht und Zittern oder ohne jedes Zögern auf die Kanzel eilt, eigentlich jemand ist, der lauthals verkündigt, dass er nie zum Prediger berufen worden ist. Ein Mann, der von Gott dazu berufen worden ist, ist jemand, der erkennt, wozu er berufen worden ist. So erkennt er, dass das Predigen die größte Verantwortlichkeit in der Gemeinde mit sich bringt, und er schreckt deshalb davor zurück. Nichts Geringeres als dieses überwältigende Empfinden, berufen worden zu sein, und der auferlegte innere Zwang sollte einen Menschen überhaupt zum Predigen veranlassen.
Auszüge aus dem Buch:
Die Predigt und der Prediger
Basierend auf einer Reihe von Vorträgen, die Lloyd-Jones 1969 vor vielen Predigern hielt, ist diese Sammlung über das Wesen des kraftvollen Predigens zu einem Klassiker geworden. Lloyd-Jones verteidigt den Vorrang des Predigens und zeigt, dass es keinen Ersatz dafür gibt. Er fordert die Prediger auf, ihre Berufung ernst zu nehmen: »Das dringendste Bedürfnis in der christlichen Gemeinde von heute ist biblisches Predigen.«