Was ist eigentlich ein Christ?

8 April, 2023

Kategorie: Erbauung

Was ist eigentlich ein Christ?

Es war für mich eine wirkliche Überraschung, als ich zum ersten Mal entdeckte, wie selten die Bibel das Wort Christ gebraucht. Heute sprechen wir öfter von einem Christen, wenn wir einen Nachfolger Christi beschreiben, und außerdem von »christlicher Kirche«, »christlichem Glauben« und »christlichem Lebensstil« usw. In der ganzen Heiligen Schrift taucht das Wort Christ nur dreimal auf. 

Die zweite Überraschung erlebte ich, als ich mir die drei Stellen näher ansah. Obgleich das Wort Christ vermutlich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinde um die Mitte des 1. Jahrhunderts gebräuchlich war, ist es wahrscheinlich, dass es in keiner der drei Stellen von Christen selbst in den Mund genommen wurde. Die erste Erwähnung findet sich in Apostelgeschichte 11,26. Dort lesen wir: »… und in Antiochia wurden die Jünger zuerst Christen genannt.« Das besagt doch, dass die Christen von anderen diese Bezeichnung als Spottnamen erhalten hatten. Die zweite Stelle steht in Apostelgeschichte 26,28. Es gibt hier keinen Zweifel, wer den Ausdruck gebraucht hat. Es war der heidnische König Agrippa, der Paulus anfuhr: »Es fehlt nicht viel, und du überredest mich, dass ich ein Christ werde!« Schlussendlich steht noch in 1. Petrus 4,16: »Wenn er aber als Christ leidet, so soll er sich nicht schämen, sondern er soll Gott verherrlichen in dieser Sache!« Petrus sprach hier von dem Druck und der Verfolgung, die die Christen um Jesu willen auf sich nehmen mussten. Sie wurden mit dem galiläischen Unruhestifter Jesus in Verbindung gebracht, der für sich in Anspruch nahm, der Christus zu sein, und der noch nicht einmal einen Satz zu Seiner Verteidigung sagte, als Er wegen Gotteslästerung verklagt und von Pontius Pilatus mit überwältigender Zustimmung des Volkes zum Tode verurteilt wurde. Wer sich mit solch einem Menschen einließ, musste Schwierigkeiten und Nöte riskieren. 

Diese Umstände müssen wohl dazu beigetragen haben, dass das Wort Christ Eingang in unsere Sprache gefunden hat. Diese Vermutung wird noch durch die Tatsache bekräftigt, dass um das Jahr 116 n. Chr. der römische Geschichtsschreiber Tacitus über die Verfolgung durch den Kaiser Nero von denen schrieb, »die das Volk oder die gewöhnlichen Leute Christen nannten«. Das Wort Christ war ganz offensichtlich ein Spottname, ein Ausdruck für eine Beschimpfung, der den Menschen angehängt wurde, die sich mit dem angeblichen Verführer und galiläischen Wanderprediger einließen. Dann aber geschah etwas Wunderbares. Die Nachfolger Jesu nahmen diesen erniedrigenden Spottnamen an und begannen ihn auf sich selbst anzuwenden. So wurde Christ das klassische Wort für ihre Identifizierung. Sie nahmen den Schmutz, mit dem ihre Feinde sie bewarfen, und machten daraus ein Ehrenkleid, das sie mit Würde trugen. Heute kann kein besserer Name für die gefunden werden, die Christus als ihrem Erretter vertrauen, Christus als ihren Herrn anerkennen und Christus als ihrem König dienen. Ein Christ ist eben »ein Christ«. Und wenn wir uns die Stellen näher ansehen, in denen das Wort im Neuen Testament vorkommt, begegnen uns wichtige Wahrheiten, die uns helfen, die Antwort auf unsere Frage »Was ist ein Christ?« zu unterstreichen. 

Ein Mensch unter Jesu Anweisung

» … und in Antiochia wurden die Jünger zuerst Christen genannt« (Apg. 11,26). Es scheint mir, dass der entscheidende Punkt hier im Text sofort klar und deutlich ins Auge fällt. Diejenigen, die von den Ungläubigen Christen genannt wurden, waren bei den Gläubigen als Jünger bekannt. Die Worte Christen und Jünger sind gleichbedeutend. Darauf sollten wir achten. Ich erinnere mich, dass ich als junger Christ von der Kanzel herab mit folgenden Worten angesprochen wurde: »Sie sind vielleicht ein Christ, aber sind Sie ein Jünger? Sie haben das christliche Leben angefangen, aber haben Sie auch eine höhere Stufe erreicht?« Das klingt sehr herausfordernd und daher echt anregend und nützlich; aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Wir müssen uns vor einer Begeisterung hüten, die nicht aus den Leitlinien der Schrift kommt. Eifer allein ist nicht unbedingt etwas Gutes. Es hat Paulus das Herz gebrochen, als er sah, dass viele Juden für Gott eiferten, aber mit Unverstand (Röm. 10,2). Der Gedanke an einen Schnellzug, der mit hundert Stundenkilometern daherbraust, ist eine aufregende Sache. Aber nicht, wenn er nicht auf Schienen fährt. Das gilt auch, wenn man Menschen herausfordert, zu einer »höheren Ebene« des christlichen Lebens vorzudringen. Das klingt zwar wunderbar, aber nicht dann, wenn dieser Lehre die Grundlage in der Heiligen Schrift fehlt. 

Die Bibel weiß nichts von einem starren Zweistufensystem des Christentums – egal, ob der Sprung zu der »höheren Stufe« durch eine besondere Erfahrung, durch besondere Erkenntnis oder durch eine starke Betonung einer bestimmten Seite der Lehre erfolgt. Die Bibel macht auch nirgends einen Unterschied zwischen einem Jünger und einem Christen. Beide Worte beschreiben die gleiche Art von Menschen; das wird aus Apostelgeschichte elf deutlich. Alle Jünger waren Christen. Alle Christen waren Jünger. Deshalb könnte die Frage statt »Was ist ein Christ?« auch heißen: »Was ist eigentlich ein Jünger?« 

Die Antwort auf die so gestellte Frage ist ganz einfach, weil das Wort Jünger Schüler bedeutet. Der Jünger ist ein Schüler – ein Mensch, der unter einer bestimmten Anweisung und Belehrung steht. Wenn die Menschen von Jüngern reden, dann meinen sie gewöhnlich die Zwölf, die von Jesus besonders berufen wurden, oder die Siebzig, die von Ihm ausgesandt waren, oder diejenigen, die sich an Pfingsten versammelt hatten. Aber die Heilige Schrift gebraucht das Wort in einer viel umfassenderen Weise. Wir lesen von Moses Jüngern (Joh. 9,28) und von den Jüngern von Johannes dem Täufer (Mt. 9,14). Es wird uns berichtet, dass die Pharisäer ihre Jünger zu Ihm sandten (Mt. 22,15-16). Sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Welt scharten Philosophen und Lehrer Gruppen von Lernwilligen um sich, die ihre Art von Lehre zu verstehen suchten. Sie waren also Männer, die unter Anweisungen standen. Der allgemeine Ausdruck für sie lautete Jünger. So war es ganz natürlich, dass die Menschen, die sich zu Jesus hielten und Seinen Lehren folgten, auch Jünger genannt wurden. Wir wollen nun diesen Gedanken weiter ausführen, wenn wir das untersuchen, was die Bibel über die Jünger Jesu zu sagen hat, weil wir zwei besondere Merkmale finden, die von ihnen gefordert wurden.

1. Entschlossene Aneignung der Wahrheit

Während eines Besuches in Mazedonien wurde ich zu einem Patienten in einem Krankenhaus gebracht, der sich von einer schweren Operation erholte. Als wir uns der Station näherten, wurde mir gesagt, dass dieser Mann Ältester in der Gemeinde in Beröa war. Sofort wurden meine Gedanken auf die Verse gelenkt, die uns sagen, dass die Juden in Beröa »edler gesinnt [waren] als die in Thessalonich und das Wort mit aller Bereitwilligkeit auf[nahmen]; und sie forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhalte« (Apg. 17,11). Ich hatte mich gerade mit dieser Stelle in Gedanken beschäftigt, als wir um die Ecke gingen und schon im Zimmer des Mannes von Beröa waren, der aufrecht im Bett saß und die Bibel las. Das Neue Testament wurde mir lebendig. Hier hatte ich einen würdigen Vertreter der damals edlen Beröer. Er hatte Hunger nach Gottes Wort wie David, der ausrief: »Wie süß ist Dein Wort meinem Gaumen, mehr als Honig meinem Mund!« (Ps. 119,103). 

Das Kennzeichen eines echten Jüngers ist seine entschlossene Annahme des Wortes Gottes. Ihm geht es nicht nur um Gedanken über die Wahrheit. Wir leben in einer Zeit, in der sich das wiederholen muss, was sich in Beröa zugetragen hatte. Obgleich wir mit einer Bibelübersetzung nach der anderen überflutet werden, bin ich nicht davon überzeugt, dass die heranwachsende Generation von Christen ihre Bibel besser kennt. Es besteht ein Unterschied, ob man imstande ist, allgemeine Gedanken der sogenannten christlichen Philosophie in Worte zu fassen, oder ob man Gottes Wort kennt und versteht. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich mich als junger Mensch bemühte, Bibelverse auswendig zu lernen. Aber das ist heute aus der Mode gekommen, und das Ergebnis ist, dass viele Menschen in ihrem Glaubensleben versagen. David war imstande zu sagen: »Ich bewahre Dein Wort in meinem Herzen, damit ich nicht gegen Dich sündige« (Ps. 119,11). Können wir das auch so behaupten? Behalten wir Gottes Wort in unserem Herzen? Nehmen wir uns die Zeit, die Bibel zu lesen und sie besser kennenzulernen? Sind wir entschlossen, uns ihre Wahrheit anzueignen? Oder begnügen wir uns mit billigen religiösen Schlagworten?

Das Kennenlernen der Heiligen Schrift ist keine leichte Aufgabe. Die Errettung geschieht durch den Glauben und aus Gnade allein, aber das Vertrautwerden mit der Bibel erfordert harte Arbeit. Jim Elliot, der 1956 von den Auca-Indianern als Märtyrer in Ecuador umgebracht wurde, sagte einmal Folgendes: »Ich muss mich zum Bibelstudium zwingen und nur dem inneren Drang des Gewissens folgen, da mir im Augenblick jedes natürliche Verlangen danach fehlt. Man muss lernen, auf den inneren Drang zu achten und ihm zu gehorchen, wenn echte Glaubenshaltung von Dauer sein soll. Ich darf dann nicht länger auf angenehme Gefühle warten, um mich zu Gott aufzuschwingen. Vielmehr muss ich den Grundlinien folgen, die ich für richtig erkannt habe, ob sie mir nun angenehm erscheinen oder nicht.« Ich schlage vor, dass wir diesen Abschnitt noch einmal lesen, weil er ein notwendiger Schlüssel für unser geistliches Wachstum ist. Der Jünger muss lernen, seinem inneren Drang des Gewissens zu gehorchen, wie es Jim Elliot ausdrückt, um die Wahrheit des Wortes Gottes in sich aufzunehmen. 

2. Die sorgfältige Anwendung der Wahrheit

Dieser Punkt bringt unser Anliegen einen wichtigen Schritt weiter, und der Kernvers hierzu steht in Johannes 8,31, wo Jesus zu den Juden sagt, die an Ihn glauben: »Wenn ihr in Meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaftig Meine Jünger.« Es ist einem Jünger nicht freigestellt, sich dies und jenes von dem, was er hört, auszuwählen, oder von den Lehrsätzen nur das anzunehmen, was ihm zusagt und mit dem er leben will. Ein Jünger ist kein Schüler, der einer Prüfung entgegensieht und sich nur fünf von zehn Fragen aussuchen kann. Biblisch gesehen wird von ihm erwartet, dass er sich alles, was ihm möglich ist, aneignet, und dass er auch alles, was er sich angeeignet hat, zur Anwendung bringt. Der Herr Jesus hat diesen Punkt sehr oft zum Gegenstand Seiner Ausführungen gemacht. In Johannes 10 sagte Er z. B.: »Meine Schafe hören Meine Stimme, und Ich kenne sie, und sie folgen Mir nach« (V. 27). Hier wird uns die doppelte Reaktion deutlich: hören und nachfolgen. 

Albert N. Martin sagt dazu: »Die Schafe haben geöffnete Ohren und gehorsame Füße.« Und was auf die Schafe zutrifft, sollte auch auf die Jünger zutreffen. Dann sprach Jesus davon, dass Christen wie Reben am Weinstock sind. »Dadurch wird Mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und Meine Jünger werdet« (Joh. 15,8). Das Bild ist wieder klar und eindeutig. Von der Rebe fordert man, dass sie die Früchte eines Weinstocks hervorbringt. Vom Christen wird erwartet, dass er das auslebt, was er innerlich aufnimmt. Und wiederum sagte Jesus zu Seinen Jüngern, als Er mit ihnen in einem Raum in Jerusalem versammelt war: »Ein neues Gebot gebe Ich euch, dass ihr einander lieben sollt, damit, wie Ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr Meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt« (Joh. 13,34-35). Diese Verse führen uns klar vor Augen, was Jesus sagen will. Nur in der sorgfältigen Anwendung der Wahrheit zeigt sich die Jüngerschaft des Christen. Es reicht nicht aus, die Wahrheit nur zu erkennen; die Tat muss folgen.

Ein britischer Staatsbeamter diskutierte beim Eintritt der Engländer in die EWG die Schwierigkeit, eine neue Sprache zu lernen: »Oh, ich bin gut darin«, erwiderte sein Kollege; »meine Französischkenntnisse sind ausgezeichnet, bis auf die Verben«, fügte er entschuldigend hinzu. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie seine Sprachverständigung ohne die Kenntnis der Verben ausgesehen haben mag. Grammatikalisch gesehen ist ein Satz unvollständig ohne Verb, und geistlich gesehen ist ein Christ ein Invalide, solange ihm die Verben fehlen, die ihm das Rückgrat stützen. Der echte Jünger Jesu und wahre Christ ist nicht bloß ein Mensch, der die Wahrheit erkennt, sondern der sie auch sorgfältig auf sein Leben anwendet und seinen Glauben mit seinem Handeln bezeugt. Jakobus sagt: »Seid aber Täter des Wortes und nicht bloß Hörer, die sich selbst betrügen« (Jak. 1,22). Ein wahrer Christ ist ein Jünger, ein Mensch unter dem Wort der Belehrung.

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Was ist eigentlich ein Christ?

von Verena Penner Lesezeit: 8 min