Ein Großteil der evangelikalen Predigten wird zunehmend kraftlos, und traurigerweise merken es zu wenige. Wie Simson, den der Geist verlassen hatte, ohne dass er es wusste, scheinen viele Pastoren und Gemeindeleiter nicht zu bemerken, dass die Kraft Gottes aus ihrer einst kraftvollen Predigt verschwunden ist. Anstatt nun mit neuer Glut zu predigen, verschwenden sie ihre Energie mit zweitrangigen Strategien wie der Durchführung des neuesten Gemeindewachstumsprogramms, alternativer Anbetungsformen und Gemeindemarketing-Feldzüge, um ihre Gemeinde zu bauen. Einige dieser Aktivitäten mögen durchaus einen nebensächlichen Platz in der Gemeinde finden, aber die zum Himmel schreiende Not, das Gebot der Stunde, ist die Wiederherstellung der Predigt des Evangeliums in der Kraft Gottes.
Der Kern dieser Krise ist das verlorene Vertrauen auf die Kraft Gottes, Sein Wort zu gebrauchen. Viele halten an der Irrtumslosigkeit der Schrift fest, aber einige Pastoren scheinen nicht überzeugt zu sein, dass sie ausreichend ist, um durch die Predigt Ergebnisse zu erzielen, die Gott sich wünscht. Sie meinen, die biblische Predigt sei veraltet und belanglos. In manchen Gemeinden verdrängen szenische Darstellungen, Bühnendialoge, Filme und ähnliche Mittel die klare Bibelauslegung. Diese alternativen Mittel zur Darstellung der Wahrheit sind bestenfalls ein minderwertiger Ersatz für die biblische Predigt, schlimmstenfalls gefährden sie die wahre Bibelauslegung. Bis zum heutigen Tag ist und bleibt die Auslegungspredigt das von Gott bevorzugte »Transportmittel«, biblische Wahrheiten zu vermitteln, während den oben aufgeführten Hilfsmitteln bestenfalls ein Platz auf dem Rücksitz eingeräumt werden kann.
Pastoren täten gut daran, in der Heiligen Schrift erneut nachzulesen, wie die Diener Gottes gewirkt haben, und sich an ihnen als Verkündiger des Wortes Gottes ein Beispiel zu nehmen. Ein Mann, der in diesem Zusammenhang aller Aufmerksamkeit wert ist, ist der Prophet Jona.
Ein Mann, eine Botschaft, eine Methode
Der außerordentliche Erfolg der Predigt Jonas mag für seine Zeit einzigartig gewesen sein, aber die Art und Weise, in der er seine Botschaft vorbrachte, war es nicht. Jona wandte sich an eine heidnische Kultur, in der die Leute wenig oder keine Vorkenntnisse der biblischen Wahrheit hatten, und er gewann die Aufmerksamkeit eines biblisch ungebildeten Volkes. Heutzutage scheinen das viele für unmöglich zu halten. Die Frucht, die Jonas Dienst trug, war beispiellos, denn er erlebte die größte positive Reaktion, von der in der Bibel überhaupt berichtet wird. Und das ganz ohne Unterhaltungswert und Publikumsbelustigung, ohne Marketingplan und Werbefeldzug. Jona predigte einfach. Gottes Methode, diese ganze Kultur zu erreichen, war: Sein Diener musste predigen.
Das Buch Jona ist der bemerkenswerte Bericht über einen Mann (Jona), ausgerüstet mit einer Botschaft (Wort Gottes), zu einer Methode verpflichtet (Predigt), und über die Art und Weise, wie sich ein großer geistlicher Wandel ereignete. Das ist auch heute nicht anders. Gottes Werk muss auf Gottes Weise getan werden, wenn Gottes Segen erfahren werden soll.
Die Berufung zur biblischen Predigt
Die Kraft der biblischen Predigt hat ihre Wurzel zunächst in Gottes souveräner Berufung Seines erwählten Dieners. Diese himmlische Berufung ist grundlegend für eine vollmächtige Predigt. Diejenigen, die von Gott zur Predigt Seines Wortes berufen sind, müssen wissen, dass sie von Gott erwählt wurden, Seinen Auftrag auszuführen. Jona war so ein Mann. Gott sprach zum zweiten Mal zu Jona: »Mache dich auf, geh nach Ninive, in die große Stadt, und verkündige ihnen die Botschaft, die Ich dir sagen werde!« (Jon. 3,1-2).
Ein besonderer Mensch
Die Szene beginnt mit der Berufung Gottes, der Berufung eines besonderen, einzelnen Menschen: Jona. Der Prophet hatte zuvor Gottes Ruf widerstanden, in Ninive zu predigen (Jon. 1,3); aber Gott berief ihn in Seiner Gnade erneut. In gewissem Sinn stand Jona nun wieder da, wo er begonnen hatte.1 Dieser wiederholte Aufruf an Jona weist auf Gottes Selbstverpflichtung hin, Seinen Willen auszuführen, und zwar ungeachtet der Fehler und des Versagens Seiner Diener.
Gottes Berufung zur Predigt richtet sich stets an von Ihm erwählte Individuen; sie ergeht niemals an eine unbestimmte Volksmenge. Aus dem ganzen Volk Israel erwählte Gott Mose zu Seinem Sprachrohr (2.Mo. 3,1-10). In ähnlicher Weise teilte der Herr Jeremia mit, dass er bereits vor seiner Geburt von Gott ausersehen war, Sein Wort zu verkündigen (Jer. 1,5). Johannes den Täufer bestimmte Gott zu Seinem Verkündiger, als er noch im Mutterleib war (Lk. 1,15-17). Der Herr Jesus Selbst erwählte die zwölf Jünger, die zum Predigen ausgesandt werden sollten (Mk. 3,13-14). Auch den Apostel Paulus hatte Gott »vom Mutterleib an ausgesondert und … berufen«, die unschätzbaren Reichtümer Christi zu verkündigen (Gal. 1,15-16).
Das ist auch heute nicht anders. Gott Selbst wählt sich Seine Werkzeuge für die Aufgabe des Predigens aus. Er beruft sie, und Er rüstet sie auch aus, diese Aufgabe zu erfüllen. Jeder, der Gottes Wort verkündigt, muss wissen, dass Christus ihn souverän berufen hat, Ihn Selbst in diesem ernsten Dienst zu repräsentieren. In der Tat – die tiefe Gewissheit, zum Dienst berufen zu sein, ist in widrigen Zeiten eine starke Stütze. Die Berufung zum Predigen sollte dazu beitragen, alle zu stärken, die Gott für Seinen Dienst erwählt hat.
Ein besonderer Ort
Jona war von Gott beauftragt worden, an einem besonderen Ort zu predigen: in Ninive. Am Tigris gelegen, war sie die Hauptstadt der mächtigen Assyrer.2 Dreimal wird Ninive eine »große Stadt« genannt (Jon. 1,2; 3,2; 4,11); einmal sogar »eine sehr große Stadt« (3,3). Diese überquellende Weltstadt rühmte sich einer Bevölkerung von mindestens 120 000 Menschen (4,11). Vergleichsweise hatte Samaria, die Hauptstadt des Nordreiches Israel, nur etwa 30 000 Einwohner, und Jerusalem, die Hauptstadt des Südreiches Juda, war noch kleiner. Diese große Stadt Ninive war von einem schützenden inneren Wall umgeben – fünfzehn Meter breit, dreißig Meter hoch, und er hatte einen Umfang von etwa dreizehn Kilometern. Eine zweite Verteidigungslinie umgab die zur Stadt gehörenden Felder und die kleineren, vorgelagerten Dörfer.3
Als eine der gottlosesten Städte der antiken Welt war Ninive wegen der Grausamkeit gefürchtet, mit der ihre Soldaten die Gefangenen aus benachbarten Völkern behandelten. Die Leute von Ninive waren dafür berüchtigt, ihre eigenen Kinder heidnischen Gottheiten zu opfern, und sie waren hemmungslos in ihrer Missachtung von Menschenleben. Kein Wunder, dass Ninive als »die blutbefleckte Stadt« bekannt war (Nah. 3,1). Die moderne Archäologie hat bestätigt, dass die Assyrer wegen ihrer abstoßenden Brutalität als barbarisches Volk bezeichnet werden können. Besonders deutlich sieht man es daran, wie sie ihre Kriegsgefangenen behandelten.4 Diese trotzige Stadt war kein einfacher Ort, um dort Gott zu dienen. In dieser »großen Stadt« Seinen Dienst zu tun war eine Aufgabe, die Jona alles abverlangte.
Versteh mich nicht falsch, es gibt heute keinen einfachen Ort, an den Gott Seine Diener senden kann, um zu predigen. Wie für Jona ist jede von Gott gestellte Aufgabe schwierig und erfordert unsere ganze Kraft. Die Sünde hat die ganze Menschheit durchseucht, und wo auch immer Menschen sind, da findet sich auch menschliche Schlechtigkeit. Darüber hinaus hält Satan alle Ungläubigen »gefangen … für seinen Willen« (2.Tim. 2,26). »Die ganze Welt [befindet] sich im Bösen« (1.Joh. 5,19). Die Welt, das Fleisch und der Teufel stellen sich den Dienern Gottes an jedem Ort der Welt mit unheimlichen, übermenschlichen Kräften entgegen, um die Verkündigung des Evangeliums zu verhindern. Wohin auch immer Gottes Diener gesandt werden, erwartet sie ein Schlachtfeld geistlicher Kriegsführung.
Ein besonderer Zweck
Außerdem berief Gott Jona für einen besonderen Zweck: zum Predigen. Er sagte ihm: »Verkündige ihnen die Botschaft, die Ich dir sagen werde!« (Jon. 3,2). Das beinhaltete sowohl die Art der Aufgabe (»verkündige«) als auch die Botschaft (»die Ich dir sagen werde«). Gott würde ihm dann sagen, was er verkündigen sollte, und auch, wie er es verkündigen sollte. Das hebräische Wort für »verkündigen« bedeutet nach dem New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis »rufen, aufrufen, beschwören, zusammenrufen, verkündigen, dringend bitten«. Es bezieht sich häufig auf eine Verkündigung, die in einer Zeit größter Not ausgeführt wird und deren Zweck es ist, eine entscheidende Reaktion auszulösen (Ps. 34,7; 81,8).5
»In der prophetischen Literatur ist das Verb qara ein Fachausdruck für die Verkündigung des Willens Jahwes.«6 Dieses Wort bedeutet viel mehr, als bloße Andeutungen zu machen oder nutzlose Meinungen zu äußern. Es leitet eine prophetische Botschaft ein (1.Kö. 13,32), auf die unweigerlich eine bevollmächtigte Verkündigung folgt (1.Mo. 41,43; 2.Mo. 32,5; Ri. 21,13; Est. 6,9). Die Botschaft Jonas wurde also mit göttlicher Autorität verkündigt.
Hinsichtlich der Botschaft selbst wies Gott Jona an, das zu verkündigen, was Er ihm sagen würde (Jon. 3,2). Mit anderen Worten: Die Botschaft hatte ihren Ursprung bei Gott Selbst, nicht bei dem Propheten. Das Wort »Verkündigung« spielt auf eine formelle Ankündigung an, die von einem offiziellen Boten oder Botschafter vorgetragen wird, der der Wichtigkeit der Botschaft Glaubwürdigkeit verleiht.7 Hugh Martin, ein schottischer Pastor im achtzehnten Jahrhundert, schrieb: »Er muss ein Botschafter im strengstmöglichen Sinne sein. Er muss einfach nur den Willen und das Wort Gottes bekanntmachen.«8 Anders gesagt, Jona musste treu Gottes Botschaft überbringen und nicht eigene Gedanken, die er selbst entwickelt hatte.
Diesmal gehorchte Jona dem Ruf Gottes. Nun war er fest entschlossen, Gottes Botschaft zu verkündigen. »Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive, nach dem Wort des HERRN. Ninive aber war eine sehr große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß« (Jon. 3,3). Jona könnte zuvor irgendwo nahe am Ufer des Mittelmeeres gestanden haben, dort, wo ihn der große Fisch ans Land gespien hatte (2,11). Die Stadt Ninive war mehr als 800 Kilometer von dort entfernt, und so wird Jonas Reise dorthin rund einen Monat gedauert haben.9 Als Gott ihn zuvor berufen hatte, hatte sich Jona nach Westen gewandt; diesmal aber ging er nach Nordosten. Die Stadt war so groß, dass es »drei Tagereisen« erforderte, sie mit ihrem nahezu 100 Kilometer Umfang zu durchqueren. Dennoch konnte auch eine so beeindruckende Stadt den Auftrag an Jona, zu predigen, nicht zurückdrängen. Da er nun nicht mehr vor Gott davonlief, war er erfüllt von der Bereitschaft, dahin zu gehen, wohin Gott ihn sandte, und das zu tun, was Gott ihm auftrug.
Gottes vorrangiger Plan heute
Die Predigt war die Methode Gottes, um Ninive zu erreichen, und es ist auch heute noch Gottes vorrangiger Plan, um Städte zu bewegen. Die Prediger unserer Zeit müssen mit heiligem Mut gehorsam dorthin gehen, wohin Gott sie gesandt hat, um durch die Predigt Seine rettende Botschaft zu verkündigen. Solch unbedingter Gehorsam Seiner Prediger gegenüber dem Herrn ist immer notwendig. Ein von Gott berufener Mann, bewaffnet mit einer von Gott gesandten Botschaft und zu einer von Gott vorgeschriebenen Methode verpflichtet (der Predigt), ist immer tauglich für jede Situation.
John Knox war so ein Mann. Obwohl er der Führer der protestantischen Reformation in Schottland werden sollte, nahm er diesen Dienst nur widerstrebend an. Die Last der Verantwortung, das Wort zu predigen, schien ihm zu groß, als dass er den Auftrag leichten Herzens annehmen konnte. Für diesen werdenden Reformator war die Kanzel ein geheiligtes Pult, ein Schritt auf heiligen Boden. Als Knox von seiner ersten Gemeinde im April 1547 zum Pastor berufen wurde, brach er in Tränen aus und zog sich in die Abgeschiedenheit zurück. Er war zu sehr überwältigt, um diese Berufung anzunehmen. Knox war sich der göttlichen Verantwortlichkeit nur allzu bewusst, die mit einer solchen Berufung verknüpft ist, und lehnte wegen seiner eigenen Unzulänglichkeiten vorerst das Amt ab. Aber Gott war der Berufende. Diese unleugbare Tatsache nahm seine Seele gefangen.
Durch solch eine Erfahrung, in der die Seele geprüft wird, kam Knox zu der Erkenntnis, dass er predigen musste. Wo, so muss man fragen, finden wir heute noch solche Männer, die vor Gott erbeben? Wo sind jene, die als von Gott berufen predigen? Gehörst du zu dieser Art von Männern?
Das Wesen biblischer Predigt
Am ersten Tag, an dem Jona seinen Fuß auf den Boden von Ninive setzte, begann er zu predigen. »Und Jona fing an, eine Tagereise weit in die Stadt hineinzugehen, und er rief und sprach: ›Noch 40 Tage, und Ninive wird zerstört!‹« (Jon. 3,4). Seine Botschaft war einfach. Sie umfasste nur sieben Worte (SCHL2000); im Hebräischen besteht sie aus nur fünf Worten. Obwohl nicht bekannt ist, ob dies alles war, was Jona sagte, legt der Vers nahe, dass Gottes Botschaft kurz war. Es war die Deklaration des drohenden Gerichtes Gottes sowie die Einladung zu Seiner rettenden Gnade. An dieser zugespitzten Botschaft können einige Kennzeichen biblischer Predigt aufgezeigt werden.
Eine mutige Predigt
Zunächst einmal war Jonas Predigt mutig. »Er rief und sprach« bei der Überbringung seiner Botschaft. Er zeigte den Mut seiner Seele, um Gottes Botschaft zu verkündigen. Er schlich sich nicht heimlich, still und leise in die Stadt. Er drückte sich auch nicht schüchtern an den Leuten vorbei und murmelte seine Botschaft vor sich hin aus Furcht, jemanden zu kränken. Der Prophet erhob vielmehr seine Stimme über den Lärm dieser großen Stadt und verkündigte Gottes Wort. Er musste gehört werden.
Jona brachte das Thema des göttlichen Gerichts nicht in passiver Haltung zur Sprache, als hätte er vorausahnen können, dass seine Botschaft nicht gerade beliebt sein würde. Stattdessen drohte er seinen Zuhörern mit dem göttlichen Zorn und der ewigen Vernichtung. Jona könnte ja bei sich gedacht haben: »Ich könnte getötet werden, wenn ich diese Botschaft predige. Welchen Nutzen hätte Gott davon, wenn ich tot wäre?« Oder: »Was wäre, wenn der erste, der mich hört, mich steinigen würde? Wie könnte ich dann diese ganze Stadt erreichen?« Aber er tat nichts dergleichen. Stattdessen verkündigte er dieser Hochburg von Fleischlichkeit mutig die Botschaft Gottes. Mit zunehmender Kühnheit und im Vertrauen auf Gott, der ihn zum Predigen berufen hatte, erhob Jona seine Stimme, damit ihn jedermann hören konnte.
Der mutige Kurier Gottes scheint eine antiquierte Erinnerung an ein längst vergangenes Zeitalter zu sein. Diesen schrecklichen Mangel an Mut zum Predigen ansprechend, schrieb John Stott:
»Es gibt ein dringendes Bedürfnis nach beherzten Predigern auf den Kanzeln der heutigen Welt. Prediger wie die Apostel der ersten Gemeinde – ›Sie wurden alle mit Heiligem Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimütigkeit‹ (Apg. 4,31; vgl. V. 13). Weder solche, die Menschen gefallen wollen, noch Diener des Zeitgeistes geben jemals gute Prediger ab. Wir sind zu dem heiligen Auftrag biblischer Auslegung berufen und sind bevollmächtigt, das zu verkündigen, was Gott gesagt hat, und nicht das, was die Menschen hören wollen. Viele moderne Menschen, die die Gemeinde besuchen, leiden an einer Krankheit, die man ›empfindliche Ohren‹ nennt und die sie dazu bewegt, ›sich selbst nach ihren eigenen Lüsten Lehrer [zu] beschaffen‹ (2.Tim. 4,3). Aber wir haben nicht die Freiheit, ihr Verlangen zu erfüllen oder ihren Lüsten Vorschub zu leisten.«10
Unglücklicherweise scheint der größte Teil der zeitgenössischen Predigtweise völlig aus dem Lot geraten zu sein. Was aus ihr geworden ist, hat jemand so beschrieben: »Ein sanft gearteter Mann steht vor sanft gearteten Leuten und legt ihnen ans Herz, sanfter zu sein.« Da klingt das, was Phillips Brooks 1877 in seinen berühmten Yale-Studien über die Predigt schreibt, wie eine überaus nötige Warnung:
»Wenn du dich vor Menschen fürchtest und ein Sklave ihrer Meinungen bist, dann geh hin und mach irgendetwas anderes. Geh gleich und male Bilder, von denen du weißt, dass sie schlecht sind, aber dem schlechten Geschmack der Leute entsprechen. Halte aber auf gar keinen Fall dein ganzes Leben lang Predigten, die nicht das aussagen, wozu Gott dich gesandt hat, sondern was die Leute von dir hören wollen. Sei mutig!«11
Eine unwiderstehliche Predigt
Zweitens war Jonas Predigt unwiderstehlich. Die Tatsache, dass Jona »rief«, offenbart die Leidenschaft, mit der er Gottes Botschaft überbrachte. Hier steht das gleiche hebräische Wort, das Gott zuvor bei der Berufung Jonas gebraucht hat (»verkündige«, Jon. 1,2). Seine Predigt handelte von ernüchternden Themen: Leben und Tod, Heil und Verdammnis, Himmel und Hölle. Alexander MacLaren, ein schottischer Prediger des 19. Jahrhunderts, kommentiert die Art und Weise der Predigt Jonas so:
»Rufen … macht hier die Art deutlich, die denen geziemt, welche die Botschaft Gottes hinaustragen. Sie sollten sie laut ausrufen, unmissverständlich und eindringlich, mit Ernsthaftigkeit und Anzeichen von innerer Bewegung in ihrer Stimme. Ein schwaches Flüstern wird keinen Schlafenden aufwecken. Wenn der Bote nicht mit offenkundigem Ernst ruft, wird die Botschaft unter den Tisch fallen. Er darf nicht mit schwacher Stimme verkündigen, als schäme er sich der Botschaft; auch nicht unschlüssig, als sei er sich ihrer nicht ganz sicher; und schon gar nicht kühl und unbewegt, als sei sie von geringer Dringlichkeit. Gottes Wort muss in den Ohren der Menschen widerhallen. Der Prediger ist ein Rufender.«12
Diesen unentrinnbaren Drang zum leidenschaftlichen Rufen beim Predigen haben die Boten Gottes stets verspürt. Der Puritaner Richard Baxter sagte: »Ich predige, als sei ich mir nicht sicher, ob ich jemals wieder predigen kann, und ich spreche wie ein Sterbender zu Sterbenden.« George Whitefield kommentierte: »Ich liebe jene, die das Wort mit Donnerstimme hinausrufen. Die Christenheit liegt in einem tiefen Schlaf. Nichts als eine laute Stimme kann sie daraus erwecken.« D. L. Moody bemerkte: »Die beste Art, eine Gemeinde wiederzubeleben, besteht darin, auf der Kanzel ein Feuer zu entfachen.« Martyn Lloyd-Jones, der letzte Pastor der Westminster Chapel in London, sagte einmal: »Die Predigt ist die Theologie, die durch einen Mann vermittelt wird, der in Flammen steht.«13
Im Gegensatz dazu scheinen jedoch heute bei der Predigt Leichtsinn und Gehaltlosigkeit an der Tagesordnung zu sein. Viele Pastoren scheinen mehr Wert darauf zu legen, zu unterhalten und nicht auszulegen. Pastor Alistair Begg brachte diesen bedauerlichen Zustand auf den Punkt, als er schrieb: »Die Kanzeln sind für Prediger gemacht. Für Künstler wurden Bühnen gebaut.«14 Als ein Ruf nach mehr Ernst in der Predigt schrieb John Piper:
»Das Ziel, Menschen die Buße zu predigen, scheint bei vielen Predigern von Gelächter abgelöst worden zu sein. Gelächter bedeutet, dass sich die Leute gut fühlen. Es bedeutet, dass sie dich mögen. Es bedeutet, dass du sie bewegt hast. Es bedeutet, dass du ein gewisses Maß an Macht über sie hast. Es scheint alle Anzeichen erfolgreicher Kommunikation mit sich zu tragen, wenn man den Abgrund der Sünde und die Heiligkeit Gottes, wenn man die Drohung vor der Hölle und das Erfordernis zerbrochener Herzen außer Betracht lässt.«15
Traurigerweise gibt es sehr wenig unwiderstehliche, gewichtige Verkündigung auf unseren heutigen Kanzeln. Der endlose Nachschub an seichter Gemeinschaft, nicht ernstzunehmender Rede, sinnloser Unterhaltung und oberflächlichen Geschichten nimmt überhand, und es gibt herzlich wenig Auslegung der göttlichen Botschaft. Aber die Berufung zum Predigen ist eine Berufung, genau das zu tun – Predigen! In der Verkündigung der Botschaft Gottes muss ein prophetischer Ton mitklingen. Kein nervöses Stottern in Unsicherheit, kein oberflächliches Reden in Leichtfertigkeit – Predigen ist die tiefschürfende Verkündigung der ewigen Botschaft, die von Gott Selbst kommt. Wenn doch die heutigen Pastoren eine solche Last wie einen um ihre Schultern gelegten schweren Mantel empfinden würden! Dann würden die Gemeinden sehen, was Jona sah, nämlich mehr bekehrte Sünder und erbaute Heilige.
1 Billy K. Smith und Frank S. Page, »Amos, Obadiah, Jonah«, New American Commentary, Broadman & Holman.
2 Merrill Unger, »Unger’s Commentary on the Old Testament«, Moody.
3 John D. Hannah, »Jonah« in »The Bible Knowledge Commentary«, Old Testament, John F. Walvoord und Roy B. Zuck (Hrsg.), Victor.
4 Siehe Fußnote 2.
5 Leonard J. Coppes in »Theological Wordbook of the Old Testament«, R. Laird Harris, Gleason L. Archer Jr. und Bruce K. Waltke (Hrsg.), Moody.
6 Louis Jonker, »New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis«, Willem A. VanGemeren (Hrsg.), Zondervan.
7 Siehe Fußnote 1.
8 Hugh Martin, »The Prophet Jonah«, Banner of Truth.
9 Siehe Fußnote 1.
10 John R. W. Stott, »Between Two Worlds«, Eerdmans.
11 Phillips Brooks, »Lectures on Preaching«, Dutton.
12 Alexander MacLaren, »Expositions of the Holy Scripture«, Baker.
13 Zitiert bei John Blanchard, »Gathered Gold«, Evangelical Press.
14 Begg, »Preaching for God’s Glory«.
15 John Piper, »Ihn verkündigen wir«, Betanien Verlag.
Ein Auszug aus dem Buch »Hungersnot«, EBTC Verlag.