Wenn du ehrlich bist, hast du dir diese Frage vielleicht selbst schon gestellt: Bringt mir mein Bibellesen wirklich geistlichen Gewinn?
Es gibt ernsthafte Gründe, anzunehmen, dass ein großer Teil des Bibellesens und des Bibelstudiums in unserer Zeit erstaunlich wenig Frucht getragen hat. Mehr noch: Bei manchen hat es nicht zum Segen geführt, sondern eher geschadet. Das klingt hart, aber es wäre lieblos, es nicht auszusprechen. Nicht Gottes Wort ist das Problem, sondern unser Umgang damit.
Gottes Gaben sind immer gut. Aber sie können falsch gebraucht werden. Du kannst die Bibel aufmerksam, regelmäßig, ja sogar begeistert lesen und doch innerlich unberührt bleiben. Ein Mensch ohne geistliches Leben kann sich der Schrift mit derselben Neugier und demselben Eifer nähern wie einem spannenden Forschungsgebiet. Sein Wissen wächst. Aber oft wächst auch sein Stolz.
Wie ein Chemiker, der mit Freude neue Experimente durchführt, freut sich der rein verstandesmäßig orientierte Bibelleser über neue Entdeckungen: Zahlen, Strukturen, Prophetien, Typologien. Doch diese Freude ist nicht geistlicher als jene des Chemikers. Und wie wissenschaftlicher Erfolg leicht zu Selbstgefälligkeit führt, so kann auch Bibelwissen dazu verleiten, sich anderen überlegen zu fühlen – schärfer im Urteil, härter im Ton, kälter im Herzen.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob du die Bibel liest, sondern warum du sie liest. Vielleicht liest du sie, um geistig mithalten zu können. Vielleicht, um dich besser auszukennen. Vielleicht nur aus Gewohnheit. Vielleicht, um argumentieren zu können. Vielleicht, um deine konfessionelle Position zu verteidigen. All das ist möglich, ohne dass dein Herz wirklich Gott sucht.
Und genau hier liegt die Gefahr: Man kann die Bibel lesen, ohne in Gottes Gegenwart zu treten. Man kann die Wahrheit studieren, ohne sich von ihr verändern zu lassen. Wo kein echtes Suchen nach Gott ist, wo keine Sehnsucht nach Erbauung, Heiligung und innerer Veränderung besteht, dort bleibt der Nutzen aus – ganz gleich, wie intensiv dein Studium ist.
Was bedeutet es also, wirklich vom Wort Gottes zu profitieren? Der Apostel Paulus gibt eine klare Antwort: »Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet« (2.Tim. 3,16-17).
Beachte bewusst, was hier nicht steht. Die Schrift ist uns nicht gegeben, um unseren Intellekt zu befriedigen oder fromme Spekulationen zu nähren. Sie ist kein Schauplatz für Selbstdarstellung. Sie ist ein Werkzeug Gottes, um dich zu formen.
Sie belehrt dich, damit du mehr Wahrheit erkennst. Sie überführt dich, damit verborgene Sünde ans Licht kommt. Sie weist dich zurecht, damit dein Weg korrigiert wird. Sie erzieht dich, damit dein Leben Gott ähnlicher wird. Sie rüstet dich aus für jedes gute Werk. Der Zweck ist nicht Information, sondern Transformation. Nicht Bewunderung der Wahrheit, sondern Gehorsam gegenüber der Wahrheit.
Und nun liegt die vielleicht entscheidende Frage ganz bei dir: Welche Frucht bringt dein Umgang mit der Schrift hervor? Welche guten Werke wachsen daraus? Welche Veränderung – im Denken, im Reden, im Handeln – bezeugt dir, dass Gottes Wort in dir wirkt und du geistlich davon profitierst?
1. Du profitierst geistlich, wenn Gottes Wort dich von Sünde überführt
Gottes Wort deckt deine Verdorbenheit auf, zeigt dir deine Schuld und legt offen, was du selbst oft lieber übersiehst oder entschuldigst.
Vielleicht wirkst du nach außen hin anständig und respektabel. Doch wenn der Heilige Geist das Wort Gottes mit göttlicher Kraft auf dein Herz anwendet, erkennst du deinen wahren Zustand vor Gott. Dann bleibt kein Platz für Selbstrechtfertigung. Dann rufst du wie der Prophet Jesaja angesichts der Heiligkeit Gottes aus: »Wehe mir, ich vergehe!« (Jes. 6,5).
So führt Gott jeden Menschen, den Er errettet, zu einer unumgänglichen Erkenntnis: Ich brauche Christus – nicht als fromme Ergänzung meines Lebens, sondern als meine einzige Hoffnung. Darum sagte Jesus zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken« (Lk. 5,31).
Doch das Entscheidende ist: Erst, wenn der Heilige Geist das Wort Gottes wirkungsvoll auf das Herz anwendet, wird dem Sünder bewusst, dass er krank ist – ja, geistlich sterbenskrank. Vorher hielten wir uns für gesund genug, stark genug, religiös genug.
Diese göttliche Überführung geschieht jedoch nicht nur zu Beginn des Glaubenslebens. Sie begleitet jeden, der ernsthaft mit Gott wandelt. Jedes Mal, wenn Gott durch Sein Wort zu dir spricht, stellt Er dich neu vor Seinen Maßstab. Und dieser Maßstab ist hoch – höher, als wir ihn erreichen können: »Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig!« (1.Pt. 1,16).
Wenn du von dem Versagen biblischer Personen liest – erkennst du dich darin wieder? Wenn du von dem vollkommen gerechten Leben Jesu Christi liest – erschrickst du über deine eigene Unähnlichkeit im Vergleich mit Ihm? Erkenne, dass dies ein Ausdruck der Gnade Gottes ist. Denn wo Gottes Wort dich überführt, dort ruft es dich zur Buße, lässt dich deine Abhängigkeit erkennen und führt dich neu zu Christus hin.
2. Du profitierst geistlich, wenn das Wort dich traurig über deine Sünde macht
Jesus macht im Gleichnis vom Sämann einen ernsten Unterschied deutlich. Der »felsige Boden« nimmt das Wort zunächst mit Begeisterung auf, »hat aber keine Wurzel in sich« (Mt. 13,20-21). Es gibt also ein Hören, das einen begeistert und doch nicht verwandelt. Emotionen werden geweckt, aber das Herz wird nicht verändert.
Ganz anders war es bei den Zuhörern der Predigt von Petrus. Dort heißt es, dass ihnen das Gehörte durchs Herz drang (s. Apg. 2,37). Gottes Wort blieb nicht an der Oberfläche liegen. Es traf sie innerlich. Es hat sie überführt. Und genau dort begann echte geistliche Veränderung.
Dieser Gegensatz besteht auch heute. Manche hören beeindruckende Predigten und genießen die Redekunst, aber sie gehen innerlich unverändert nach Hause. Andere dagegen danken Gott für Botschaften, die sie demütigen, die ihr wahres Inneres vor Ihm offenlegen und sie ihrer eigenen Bedürftigkeit bewusst machen.
Wenn beim Bibellesen der Heilige Geist dein Inneres trifft und du deine Verdorbenheit erkennst, dann bist du wirklich gesegnet. Denn geistlicher Gewinn beginnt oft dort, wo unser Stolz zerbricht.
Weißt du, lieber Leser, etwas von dieser Erfahrung? Führt dich dein Umgang mit dem Wort Gottes zu einem zerbrochenen Herzen? Demütigt er dich vor Gott? Überführt er dich so von deiner Sünde, dass er täglich Buße vor Ihm bewirkt?
Das Passahlamm musste mit »bitteren Kräutern« gegessen werden (2.Mo. 12,8). Das ist kein Zufall. Wenn wir uns wirklich vom Wort Gottes nähren, dann macht es der Heilige Geist für uns zuerst »bitter«, bevor es süß wird.
Beachte die göttliche Reihenfolge in Offenbarung 10,9: »Und ich ging zu dem Engel und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sprach zu mir: Nimm es und iss es auf; und es wird dir Bitterkeit im Bauch verursachen, in deinem Mund aber wird es süß sein wie Honig.« Vor dem Trost kommt die Trauer (Mt. 5,4). Vor der Erhöhung die Demütigung (1.Pt. 5,6). Wo Gottes Wort dich traurig über die Sünde macht, dort bereitet Gott dein Herz für echten Frieden zu. Denn nur ein gebrochenes Herz kann wirklich getröstet werden.
3. Du profitierst geistlich, wenn das Wort dich dazu führt, Sünde zu bekennen
Gottes Wort deckt nicht nur auf, es korrigiert auch. Die Schrift ist nützlich »zur Zurechtweisung« (2.Tim. 3,16). Wo sie ihr Werk tut, dort entsteht Ehrlichkeit vor Gott. Ein aufrichtiger Mensch beginnt nicht, seine Sünde zu entschuldigen oder zu beschönigen – er bekennt sie.
Ganz anders reagiert der gottlose Mensch. Über ihn sagt Jesus: »Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden« (Joh. 3,20). Doch wo neues Leben ist, fleht man demütig: »Gott, sei mir Sünder gnädig!«
Jedes Mal, wenn Gottes Wort unsere Seele neu belebt, erkennen wir uns neu in Seinem Licht und bekennen unsere Übertretung – nicht aus Zwang, sondern aus dem Verlangen nach Vergebung. Die Schrift verheißt uns klar: »Wer seine Schuld verheimlicht, dem wird es nicht gelingen; wer sie aber bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen« (Spr. 28,13).
Geistlicher Reichtum und Fruchtbarkeit sind unmöglich, solange du versuchst, deine Sünde zu verbergen. Erst wenn du sie vor Gott offenlegst – konkret, ehrlich und ohne Ausflüchte –, kannst du dich wirklich an Seiner Gnade freuen. Vergebung wird dort erfahren, wo Aufrichtigkeit den Platz der Selbstverteidigung einnimmt.
Solange du die Last unausgesprochener Schuld mit dir herumträgst, gibt es keinen tiefen Frieden für dein Gewissen und keine Ruhe für dein Herz. Davon spricht David mit eindringlichen Worten: »Als ich es verschwieg, da verfielen meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Deine Hand lag schwer auf mir Tag und Nacht, sodass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürr wird« (Ps. 32,3-4).
Ist diese bildhafte Sprache für dich fremd, oder erkennst du darin etwas aus deinem eigenen geistlichen Leben? Manche Worte der Bibel lassen sich nicht theoretisch erklären. Sie werden erst wirklich verstanden, wenn man sie selbst erlebt hat. Umso tröstlicher ist, was David unmittelbar danach beschreibt: »Da bekannte ich Dir meine Sünde und verbarg meine Schuld nicht; ich sprach: ›Ich will dem HERRN meine Übertretungen bekennen!‹ Da vergabst Du mir meine Sündenschuld« (Ps. 32,5).
Wo das Wort dich zum Sündenbekenntnis führt, dort führt Gott dich in die Freiheit. Denn bekannte Sünde verliert ihre Macht, und Gottes Gnade gewinnt Raum in deinem Leben.
4. Du profitierst geistlich, wenn das Wort in dir einen tiefen Hass auf die Sünde weckt
Gott lässt keinen Zweifel daran, wie wahre Gottesliebe aussieht: »Die ihr den HERRN liebt, hasst das Böse!« (Ps. 97,10). Liebe zu Gott und Gleichgültigkeit gegenüber der Sünde schließen einander aus. Wo Gott geliebt wird, dort verliert die Sünde ihre Anziehungskraft und weckt Abscheu.
Charles H. Spurgeon brachte es treffend auf den Punkt: »Wir können Gott nicht lieben, ohne das zu hassen, was Er hasst. Wir sollen das Böse nicht nur meiden und uns weigern, darin weiterzuleben, sondern ihm entschlossen entgegentreten und ihm gegenüber echte Empörung empfinden.«
Einer der zuverlässigsten Prüfsteine einer echten Bekehrung ist daher deine innere Haltung zur Sünde. Wo Gott einen Menschen heiligt, entsteht zwangsläufig eine wachsende Abscheu gegenüber allem Unheiligen. Und gerade dort zeigt sich geistlicher Gewinn: Du wirst dankbar, wenn Gottes Wort auch das als Sünde entlarvt, was du zuvor verharmlost, toleriert oder gar nicht als Sünde erkannt hast.
Der Psalmist beschreibt diese Haltung unmissverständlich: »Von Deinen Befehlen werde ich verständig; darum hasse ich jeden Pfad der Lüge!« (Ps. 119,104). Er sagt nicht: »Ich meide ihn«, sondern: »Ich hasse ihn«. Und nicht nur manche Wege, sondern jeden Pfad der Lüge. Und noch deutlicher bekennt er es hier: »Darum halte ich alle Deine Befehle in allem für recht und hasse jeden Pfad der Lüge« (Ps. 119,128).
Beim Gottlosen ist es genau umgekehrt: »… da du doch Zucht hasst und Meine Worte verwirfst« (Ps. 50,17). Die Schrift lässt keinen Raum für Neutralität. Entweder wächst durch Gottes Wort die Gottesfurcht, oder es wächst Widerstand. Darum heißt es so nüchtern und zugleich so klar: »Die Furcht des HERRN bedeutet, das Böse zu hassen« (Spr. 8,13). Diese Gottesfurcht wächst dort, wo Gottes Wort gelesen, aufgenommen und befolgt wird.
Edward Reyner brachte diese Wahrheit (1635) scharf auf den Punkt: »Solange die Sünde nicht gehasst wird, kann sie nicht abgetötet werden.« Ein bloßes Bedauern über die Folgen der Sünde reicht nicht aus. Echtes geistliches Leben zeigt sich darin, dass dein Herz sich gegen das stellt, was Gott entehrt, selbst dann, wenn es dein eigenes Fleisch betrifft.
Prüfe dich also ehrlich: Wächst in dir durch das Wort Gottes eine tiefere Abscheu gegenüber der Sünde? Oder suchst du Wege, sie zu entschuldigen oder zu verharmlosen? Wo das Wort Gottes einen heiligen Hass auf die Sünde bewirkt, dort bereitet Gott den Boden für echte Freiheit und bleibende Veränderung.
Ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch:
Vom Wort Gottes profitieren
In unserer Zeit suchen immer mehr Menschen in der Bibel nach Lösungen für die Schwierigkeiten ihres Lebens und erwarten von ihr Anweisungen für konkrete Lebensschritte. Andere lesen die Bibel, um ihr literarisches Niveau zu heben, um Beweistexte zur Verteidigung der eigenen Glaubenslehre zu finden, oder einfach, um sie gelesen zu haben. Sie denken dabei kaum an Gott; ihnen mangelt es an Sehnsucht nach geistlicher Erbauung, und folglich haben sie keinen wirklichen Nutzen für ihre Seele.
Arthur W. Pink zeigt deutlich auf, woraus ein wahres Profitieren vom Wort Gottes besteht und wie der Leser dahin gelangen kann. Er geht darauf ein, wie sich das gewinnbringende Bibellesen auf die Beziehung zu Gott und auf das Gebet auswirkt, wie es unser Handeln, unser Denken, ja, sogar unsere Motive unweigerlich beeinflusst. Zudem erläutert der Autor, wie das Wort Gottes unsere Sicht von der Welt verändert und unser Leben auf die himmlischen Dinge ausrichtet.


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