Der zentrale Stellenwert des Evangeliums

10 Mai, 2024

Kategorie: Erbauung

Thema: Evangelium

Der zentrale Stellenwert des Evangeliums

»Denn ich habe euch zuallererst das überliefert, was ich auch empfangen habe.«
1. Korinther 15,3

Kein Wort oder keine Wahrheit ist von größerer Bedeutung als das Evangelium von Jesus Christus. Die Heilige Schrift ist angefüllt mit vielen Botschaften, und die geringste unter ihnen ist wertvoller als der gesamte Reichtum der Welt und wichtiger als die größten Gedanken, die jemals im Verstand des Menschen geformt wurden. Wenn schon eine scheinbar geringe Botschaft der Schrift wertvoller als Gold ist, wie können wir dann den Wert oder die Bedeutung des Evangeliums berechnen? 

Auch innerhalb der Heiligen Schrift selbst ist nichts mit der Botschaft des Evangeliums vergleichbar. Ist auch die Geschichte der Schöpfung von Herrlichkeit gezeichnet, so verneigt sie sich doch vor der Botschaft des Kreuzes. Das Gesetz Moses und die Worte der Propheten weisen weg von sich selbst, hin zu dieser einen Botschaft der Errettung. Ist auch die Wiederkunft des Herrn voller Wunder, so steht sie doch im Schatten des Evangeliums. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass das Evangelium von Jesus Christus die eine große und grundlegende Botschaft ist, »die Akropolis des christlichen Glaubens« und die Grundlage der Hoffnung des Gläubigen. 

Es gibt nichts, das noch wichtiger, nichts, das noch gehaltvoller, und nichts, das noch notwendiger ist, damit Gottes Herrlichkeit und Sein Reich vergrößert wird! Bedienen wir uns der Sprache der Sprüche, so können wir zu Recht über das Evangelium sagen: »Denn ihr Erwerb ist besser als Gelderwerb, und ihr Gewinn ist mehr wert als feines Gold. Sie ist kostbarer als Perlen, und alle deine Schätze sind ihr nicht zu vergleichen« (Spr. 3,14-15).

Weil das wahr ist, sollte es unser unwiderstehliches Verlangen sein, das Evangelium zu verstehen. Es ist eine nicht zu bewältigende Aufgabe, aber sie ist jede Mühe wert – denn dort findet der Gläubige alle Reichtümer Gottes und jede wahre Freude. Es lohnt sich, dass wir uns selbst von jedem geringfügigeren Bemühen und Vergnügen zurückziehen, um die Tiefe der Gnade Gottes zu ermessen, die in dieser einen Botschaft geoffenbart wird. Wir als Errettete sollten bereit sein, die Dinge loszulassen, deren Herrlichkeit geringer ist, um nach der Herrlichkeit Gottes im Evangelium von Jesus Christus zu trachten! Weshalb findet man dann unter dem Volk Gottes so selten eine wahre Leidenschaft für das Evangelium?

Ein verwässertes Evangelium

Zuerst müssen wir verstehen, dass das Evangelium, welches »den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist« (Jud. 3), in den letzten Generationen vielen Überarbeitungen und Kürzungen ausgesetzt wurde.

Wenn wir die Heilige Schrift betrachten, sehen wir zwischen dem apostolischen Evangelium und dem »Evangelium«, das in unserer Zeit verbreitet wird, schnell einen großen Unterschied in Inhalt und Qualität. Auch wenn wir die Predigten der Reformatoren lesen, der Puritaner, von Edwards, Whitefield, Spurgeon und auch die neuzeitlicheren Predigten eines Martyn Lloyd-Jones, erkennen wir schnell, dass im Gegensatz dazu bei all den Predigern heute kaum noch das Fundament des Evangeliums der Herrlichkeit verkündigt wird (1.Tim. 1,11). Es wird nur noch auf ein paar geistliche Gesetze oder auf einen »Römerweg«  reduziert und demgemäß dargelegt. Wir haben dadurch zwar eine vereinfachte und leicht verständliche Darlegung des Glaubens gemacht, die aber viel von der ursprünglichen Schönheit des Evangeliums wegnimmt und nur noch wenig Herrlichkeit zurücklässt, die bewundert oder weitergehend erforscht werden kann.

Es stimmt, dass Gott einen Plan hat, dass wir Sünder sind und dass Christus gestorben und wieder auferstanden ist, damit wir durch Glauben gerettet werden können. Aber diese Aussagen auswendig zu lernen, bedeutet noch lange nicht, dass wir das Evangelium kennen oder verstanden haben. Wir dürfen solche kostbaren Steine nicht liegen lassen, ohne sie umzudrehen! Kleinere Tiere können lernen, Verhaltensregeln nachzuahmen und zu wiederholen; aber wir müssen die Heilige Schrift erforschen und die Bedeutung dieser Dinge entdecken. Wie Bergarbeiter müssen wir bereit sein, an unsere äußersten Grenzen zu gehen, uns von weltlichen Freuden zu entziehen und uns durch unzählige Stunden des Studiums und des Gebets zu graben, um die Belohnung der Erkenntnis des Evangeliums zu erlangen. Sonst werden wir »wegen der Unwissenheit, die in [uns] ist«, immer nur ein Volk mit einem verhärteten Herzen bleiben (Eph. 4,18). 

Wir müssen auf den Felsen sehen, aus dem wir gehauen sind (Jes. 51,1). Wir müssen danach trachten, das alte Evangelium wieder neu zu entdecken, davon wieder in Beschlag genommen zu werden und es mit der Leidenschaft zu predigen wie »Leute …, die ihren Gott kennen« und verstehen, was Er für sie getan hat (Dan. 11,32).

Die Geringschätzung des Evangeliums

Ein zweiter Grund, weshalb dem Volk Gottes die Leidenschaft für das Evangelium abhandenkam, ist, weil es für viele höchstens »das Einmaleins des Christentums« bedeutet oder der Schritt in das Säuglingsstadium des Glaubens, der schnell gemacht und hinter sich gelassen wird, um sich tiefgründigeren Dingen zu widmen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Das Evangelium ist die »tiefgehendste Sache« des Christentums! 

Jemand, der meint, das Evangelium so gut zu kennen, dass er es hinter sich lassen und zu größeren Dingen übergehen könne, würde gut daran tun, der Ermahnung des Apostels Paulus zu folgen: »Wenn aber jemand meint, etwas zu wissen, der hat noch nichts so erkannt, wie man erkennen soll« (1.Kor. 8,2). Wenn er die Macht hätte, die größten Theologen und Prediger in der Geschichte herbeizurufen, dann würden sie alle bezeugen, dass sie während ihrer irdischen Pilgerreise Säuglinge in der Erkenntnis des Evangeliums waren. Sie würden sich dem weisen Mann der Sprüche anschließen, der ausrief: »Ich bin unvernünftiger als irgendein Mann und habe keinen Menschenverstand. Ich habe keine Weisheit gelernt, dass ich die Erkenntnis des Heiligen besäße« (Spr. 30,2-3). 

Wir müssen verstehen, dass unsere Erforschungsreise des Evangeliums über unsere ganze Lebenszeit hinausgeht, bis hinein in tausend Ewigkeiten. Mit jeder neu entdeckten Wahrheit wird die Herrlichkeit des Evangeliums uns mehr und mehr gefangen nehmen, bis es unsere Gedanken in Beschlag nimmt und unseren Willen regiert. Vielleicht fragen wir uns, ob es darin etwas gibt, das es wirklich wert ist, ihm nachzugehen – eine Sache, die großartig genug ist, um deine Aufmerksamkeit zu fesseln. Nehmen wir uns Folgendes zu Herzen: Das Evangelium beinhaltet viel mehr als das, was man uns bisher erzählt hat, und es enthält eine Herrlichkeit, die nicht ausgeschöpft werden kann! In Wahrheit werden wir eine Ewigkeit mit dem Versuch zubringen, all die Herrlichkeiten ausfindig zu machen, die in dieser einen Botschaft enthalten sind. Und nach einer Ewigkeit der Ewigkeiten wird es darin immer noch unbegrenzte Herrlichkeit geben, die noch nicht erblickt wurde. Das Evangelium wird immer die eine Sache sein, in die sowohl die Engel als auch die Erlösten hineinzuschauen begehren (1.Pt. 1,12). 

Denken wir daran: Wir müssen immer in der Erforschung des Evangeliums wachsen und in unserer Erkenntnis darüber. Es ist nicht einfach nur »das Einmaleins des Christentums«, sondern das Christentum von A bis Z. Wir »beherrschen« das Evangelium nicht, und wir werden es auch niemals beherrschen, sondern es muss und wird uns beherrschen!

Mangel an Unterweisung im Evangelium

Ein dritter Grund, weshalb es dem Volk Gottes an Leidenschaft für das Evangelium mangelt, entspringt aus einer fehlerhaften und tödlichen Annahme: Wir nehmen nämlich an, dass sowohl das Volk Gottes als auch die Prediger und Pastoren das Evangelium verständen. Deshalb versäumen wir es, die Gläubigen im Evangelium zu unterweisen, geschweige denn, dass wir uns darum bemühten, solch einer Unterweisung Priorität einzuräumen. 

Wenn jemand eingeladen wird, nach vorne zu kommen und sich »für Jesus zu entscheiden«, wie lange wurde er dazu im Evangelium unterwiesen? Meistens macht man ein paar Minuten Seelsorge mit einer solchen Person, benutzt ein evangelistisches Schritt-für-Schritt-Traktat und bringt sie dann in einem Jüngerschaftskurs unter, wo sie eine Anleitung für das Christenleben kennenlernt. Wie viel Unterweisung im Evangelium hört sie dann von der Kanzel? Es ist gut möglich, dass sie ihr ganzes Leben lang eine Gemeinde besucht, ohne jemals Predigten zu hören, die das Ziel haben, richtig und genau zu erklären, was durch das Werk Jesu auf Golgatha und durch das leere Grab erreicht wurde. Wenn sie nun einen Ruf in den Dienst verspürt, wie viele Kurse in einer Bibelschule wird sie besuchen, die einzig und allein dem Inhalt und der Anwendung des Evangeliums gewidmet sind?

Man müsste die Lehrpläne vieler Bibelseminare oder Bibelschulen begutachten, bevor man auch nur einen Kurs findet, der speziell für diesen Zweck vorgesehen ist. Vor der Regierungszeit des gottesfürchtigen Königs Josia war das Gesetz Gottes im Tempel für viele Jahre verlorengegangen (2.Chr. 34,14-21). Ist womöglich das Gleiche auch bei uns geschehen? Ist das Evangelium unter den Gläubigen verlorengegangen?

Die Vernachlässigung des Evangeliums in der Predigt

Ein vierter und letzter Grund, weshalb es an Leidenschaft für das Evangelium in den Gemeinden mangelt, ist, weil dies auch auf der Kanzel der Fall ist. Ein geistlicher Leiter ist vor allem ein Diener am Evangelium von Christus. Das ist unsere großartige Haushalterschaft, unser Privileg und unsere Pflicht (1.Kor. 4,1; 1.Tim. 1,12; 1.Pt. 1,12; 1.Kor. 9,16). Auch wenn wir irdene Gefäße sind, zerbrechlich und zerbrochen, haben wir den kostbarsten Schatz, den Himmel und Erde jemals gekannt haben (2.Kor. 4,7). Gott hat uns abgesondert, damit wir in Seiner Gegenwart wohnen. Er ruft uns dazu auf, dass wir den größeren Teil unseres Lebens dazu gebrauchen, um Seine Geheimnisse zu erkennen und sie anderen durch das gepredigte Wort zu offenbaren. 

Heute sind jedoch viele Prediger von ihrer Berufung, Gott zu erkennen und Ihn bekannt zu machen, abgewichen. Das Studium ist trocken, und das Gebetskämmerlein ist abgeschafft. Der geistliche Leiter ist nicht mehr ein »Mann Gottes«, sondern ein Mann des Volkes. Seine Botschaft lautet nicht mehr: »So spricht der Herr!«, sondern er kommt mit einer Botschaft, die aus Umfragen und seiner angeblichen Kenntnis über die Bedürfnisse der Gemeinde entstanden ist. Er kann nicht mit dem Propheten Elia sagen: »So wahr der HERR der Heerscharen lebt, vor dem ich stehe« (1.Kö. 18,15), und er steht auch nicht mehr vor dem Volk als jemand, der von Gott gesandt wurde (Joh. 1,6).

Wir, die wir im Namen Christi dienen, sind nicht dazu berufen, geistliche Lebensberater, Moderatoren oder motivierende Redner zu sein. Wir sind Prediger! Nur weil die Welt diesen Titel lächerlich macht und es hier unzählige Scharlatane gibt, die ihnen guten Grund dazu geben, dies zu tun, bedeutet das nicht, dass wir den Mantel verachten sollen, den Christus gleichsam über uns geworfen hat (vgl. 1.Kö. 19,19). Wir sind Prediger – vor allem aber Prediger des Evangeliums. Wir dürfen uns nicht von einem geringfügigeren Ziel zur Untreue verleiten lassen, nur weil es die Anerkennung der Welt besitzt. Wir dürfen uns nicht vom Studierzimmer und dem Gebetskämmerlein weglocken lassen, sondern müssen uns selbst in der Gottesfurcht üben (1.Tim. 4,7-8). Wir müssen eifrig darin sein, uns »Gott als bewährt zu erweisen, als … Arbeiter, die sich nicht zu schämen [brauchen], [die] das Wort der Wahrheit recht [teilen]« (2.Tim. 2,15). Dies soll unsere Sorge sein, darin sollen wir leben, damit unsere »Fortschritte in allen Dingen offenbar seien« (1.Tim. 4,15)! Wir dürfen die Gnadengabe in uns nicht vernachlässigen, sondern müssen auf das öffentliche Vorlesen der Schrift, das Ermahnen und das Lehren bedacht sein (V. 13-14).

Lasst uns wie einst die Apostel sein, die mit Blick auf viele andere berechtigte Bedürfnisse ausriefen: »Es ist nicht gut, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen, um bei den Tischen zu dienen … wir aber wollen beständig im Gebet und im Dienst des Wortes bleiben!« (Apg. 6,2.4). So wie die Bergarbeiter müssen wir an unsere äußersten Grenzen gehen; wie sie, die sich sogar dem Tageslicht entziehen, sich in der Dunkelheit und in tiefen Schächten durch harte Felsen graben –, damit wir die grenzenlosen Schätze des Evangeliums von Jesus Christus entdecken und diese dem Volk Gottes darlegen können. Das ist das große und einzige Mittel, um sowohl die Kanzel als auch die Gemeinde wieder zu entflammen.


Aus dem Buch »Die Kraft der Evangeliumsbotschaft«, 3L Verlag, entnommen und gekürzt.

Blog

Der zentrale Stellenwert des Evangeliums

von Lucas Derksen Lesezeit: 8 min