Gottes unfassbare Liebe (Teil 2)

24 September, 2025

Kategorie: Erbauung

Thema: Liebe

Gottes unfassbare Liebe (Teil 2)

Im Folgenden möchte ich die Sandkastenburg einreißen und den Blick auf den Berg der Liebe Gottes richten. Möge dieser Ausblick die Sehnsucht wecken, ihn immer höher und höher zu besteigen. Möge er den Eifer wecken, Christus und Sein Evangelium tiefgehender zu studieren, um »die Liebe des Christus zu erkennen, die doch alle Erkenntnis übersteigt« (Eph. 3,19).

Inwiefern nun ist Gottes Liebe so radikal anders als alles, was wir kennen? Und inwiefern kann uns der »Autopilot« unserer Intuition darüber, wie Gott uns liebt, in die Irre führen? Wo brauchen wir eine Neuausrichtung an der Schrift – durch Gebet und bewusstes Nachsinnen über diese Liebe –, damit wir ihr tiefer vertrauen?

Gottes Liebe ist unwandelbar

Der erste Aspekt, worin sich Gottes Liebe radikal von allem unterscheidet, was wir kennen, ist dieser: Gottes Liebe ist unwandelbar.

Das einzig Konstante im menschlichen Leben ist der Wandel. Würden wir eine Fieberkurve unserer Freude, unserer Moral, unserer Disziplin und unserer Liebe – sei es zu den Nachbarn oder zu unseren Kindern – aufzeichnen, ergäbe sich eine Wellenlinie: auf und ab, zu- und abnehmend wie der Mond.

So sind wir Menschen, wir kennen es nicht anders. Bei Lehrern, Eltern, Pastoren und Freunden schwankt und schwindet und wächst und taumelt die Liebe; sie ist »[so flüchtig] wie eine Morgenwolke« (Hos. 6,4).

Doch so ist Gottes Liebe zu Seinen Kindern nicht. Sie ist jeden Morgen neu, und »[Seine] Treue ist groß!« (Kla. 3,23). Wie herrlich wäre es, mit jemandem verheiratet zu sein, dessen Liebe jeden Morgen neu aufflammte – ganz gleich, was am Tag zuvor geschehen wäre. Wie befreiend und tröstlich wäre es zu wissen: Da wartet jeden Morgen frische, unverbrauchte, erste Liebe – niemals frustriert, niemals abgenutzt.

Wie viele Christen leben beschwert und sorgenvoll, weil sie nicht glauben können, dass Gottes Liebe in Christus unwandelbar, ewig, jeden Morgen neu ist. Ihr Bild von Gottes Liebe gleicht »dem vergänglichen Menschen« (Röm. 1,23) – mal eifrig liebevoll, mal abgekühlt, mal frustriert und schwankend.

Könntest du doch Psalm 136 glauben und mitsingen: »denn Seine Gnade währt ewiglich (s. in jedem Vers! Hervorhebung von mir). Könntest du doch David anblicken, als er über seinen rebellischen, bösen Sohn Absalom sehr bewegt klagte: »Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Ach, dass ich doch an deiner Stelle gestorben wäre! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!« (2.Sam. 19,1). Wenn schon menschliche Vaterliebe selbst über die Bosheit ihrer Söhne hinweg beständig und brennend bleibt – wie viel mehr die Liebe Gottes zu Seinen in Christus reingewaschenen Kindern!

Wo sonst findet ein Mensch solche Liebe? Nur im Evangelium.

Gottes Liebe ist bedingungslos

Menschliche Liebe ist meist eine Reaktion auf etwas Liebenswürdiges. Eine Mutter küsst ihr Töchterlein, dennes ist ihr eigenes Kind, und sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Ein Fan des FC Freiburg jubelt auf dem Heimweg, obwohl sein Team verloren hat, denn es ist schon immer »sein« Team gewesen; er hat vieles mit ihm erlebt und teilt unzählige Erinnerungen damit. Ein Teenager sucht stundenlang eifrig nach seinem Handy, denn dieses Handy ist seine Tür zur Welt.

Wir kennen es nicht anders: Verschwindet das »Denn«, dann schwindet die Liebe. Wer sucht ein kaputtes Handy? Wer jubelt für das gegnerische Team? Wer küsst den Feind?

Selbst wir Christen lieben Gott nicht bedingungslos: »Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat« (1.Joh. 4,19). Wir jubeln, weil Gott uns viele »Denns« für unsere Liebe schenkt: »Denn Deine Gnade ist besser als Leben; meine Lippen sollen Dich rühmen« (Ps. 63,4).

Das ist Paulus’ Argument in Römer 5: »Nun stirbt kaum jemand für einen Gerechten; für einen Wohltäter entschließt sich vielleicht jemand zu sterben. Gott aber beweist Seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Röm. 5,7-8).

Paulus sagt hiermit nicht, dass es Menschen gäbe, die eine so große Liebe besäßen und sogar bereit wären, für (gute) Menschen zu sterben – und dass Gottes Liebe einfach nur noch größer wäre. Nein, Gottes Liebe steht in einer völlig eigenen Kategorie. »Gott aber« liebt bedingungslos, nicht-reaktiv, ohne ein »Denn«, das im Menschen gefunden werden könnte. Christus starb für Menschen, die »kraftlos« waren – nicht etwa zu kraftlos, um 100 kg zu heben, sondern unfähig, Gott zu gefallen, das heißt ohne die Fähigkeit, Ihm ein »Denn« für Seine Liebe zu liefern.

Christen sind wie der lahme Mephiboseth, den David in sein Haus holte und dort behielt – nicht etwa, weil er »gut laufen« konnte, sondern gerade trotz dieser seiner Behinderung. »Und der König sprach: Ist noch jemand da vom Haus Sauls, dass ich Gottes Gnade an ihm erweise?« Ziba antwortete ihm: »Es ist noch ein Sohn Jonathans da, der lahm an den Füßen ist« (2.Sam. 9,3; Hervorhebung von mir). Mephiboseth genoss diese Liebe aufgrund von Gründen, die außerhalb seiner selbst lagen – es gab in ihm kein eigenes »Denn«, das diese Zuwendung erklärt hätte. Und er konnte diese bedingungslose Liebe kaum fassen: »Wer bin ich, dein Knecht, dass du dich wendest zu einem toten Hund, wie ich einer bin?« (V. 8).

Am Ende vertraute Mephiboseth der Liebe des Königs – und aß täglich fröhlich an dessen Tisch. Doch wie viele Christen sind tagaus, tagein betrübt und kommen nur mit schlechtem Gewissen an Gottes Tisch, weil sie an ihre ganze Unwürdigkeit denken und sich einfach nicht vorstellen können, dass Gott sie dennoch lieben könnte. Sie blicken auf ihre vergangene Woche, sehen ihr Versagen und ihre Sünde und suchen vergeblich nach einem adäquaten »Denn« für Gottes Liebe.

Wie kann Gott solche Versager, Sünder – ja »geistliche Krüppel« – lieben?

Das ist das Evangelium:

Nicht aufgrund ihrer Leistung, sondern aufgrund der Leistung eines Anderen liebt Er sie – um Christi willen! Um Seinetwillen lädt Gott auch die Lahmen und Schwachen an Seinen Tisch, liebt sie, verlässt sie niemals und nennt sie »Auserwählte, Heilige und Geliebte« (Kol. 3,12).

Gottes Liebe ist nicht »angemessen«

Menschliche Liebe steht in der Regel in einem gewissen Verhältnis zu dem, was sie liebt. Wir entflammen in leidenschaftlicher Begeisterung für das, was unserer Meinung nach diese Liebe auch verdient – etwa für einen doppelten Regenbogen vor einer majestätischen Bergkulisse. Dingen hingegen, die wir weniger schätzen, begegnen wir mit kühlerer Zuneigung – wie (zumindest für mich) Kartoffeln und Spinat zum Mittagessen.

Gottes Liebe aber ist grundlegend anders. Die Schrift betont eine Wahrheit, die der Christ im Glauben ergreifen muss, so schwer es ihm auch fallen mag: Gott liebt Seine Kinder überströmend, leidenschaftlich, herrlich und, gemessen an unserer menschlichen Erfahrung, in einer völlig unverhältnismäßigen Weise.

Als der verlorene Sohn heimkehrte, hatte er eine klare Vorstellung davon, wie die unverdiente Gnade seines Vaters wohl aussehen könnte: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!« (Lk. 15,18-19). In seinen Augen wäre das schon mehr als gerecht gewesen: Annahme – aber nur als Knecht; Vergebung – aber verbunden mit einer Herabstufung; ein Stück Brot, um den Hunger zu stillen – doch nicht mehr. Das war für ihn das äußerste Maß an Gnade, das er sich vorstellen konnte: eine »angemessene« Gnade, nicht mehr und nicht weniger.

Denkst du, lieber Christ, vielleicht ähnlich über deine Annahme bei Gott – als müsse sie in einem gewissen Verhältnis zu deinem Leben stehen, zu deinen Werken, ja sogar zu deinen übelriechenden Sünden? Glaubst du zwar an Gnade, aber nur an eine kleine, »angemessene« Gnade?

Wage es, über das Wort Gottes zu staunen und Ihm zu vertrauen. Sieh, wie dein Vater dir – dir, dem Sünder – mit offenen Armen entgegeneilt. Höre, wie Er dein Stammeln »Ich bin es nicht wert, dein Sohn zu heißen« unterbricht und den Knechten befiehlt, dich wie einen Sohn zu bedienen. Spüre die Wärme des Mantels, der deine Blöße bedeckt. Glaube, dass Er das beste Opfer des Hauses für dich darbringen will – aus freiem Herzen.

Der entscheidende Punkt dieses Gleichnisses ist die völlig unangemessene Größe dieser Gnade. Sie überrumpelte den jüngeren Sohn und empörte den älteren – für beide war sie schlicht unfassbar.

Ja, diese Liebe ist, gemessen am Sünder, völlig unangemessen, und gemessen an unseren Taten, geradezu skandalös. Wie der ältere Sohn im Gleichnis weigert sich unser Fleisch, die offenen Arme, den Mantel und das Fest anzunehmen; ja, es zweifelt sogar daran, dass Gott wirklich ein solch großes Opfer für solche Sünder gebracht hat. Doch genau diesem Misstrauen müssen wir im Glauben die Wahrheit des skandalös-großartigen Evangeliums entgegensetzen: So hoch der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind Seine Gedanken der Liebe als die unseren – und nichts, rein gar nichts, kann uns von dieser Liebe trennen.

Gottes Liebe ist unvermischt

Menschliche Liebe ist oft durchsetzt mit unzähligen Gefühlen, Gedanken und Intentionen, die nicht der Liebe entsprechen. Deswegen ermahnt uns die Schrift zu reiner Liebe: »Die Liebe sei ungeheuchelt!« (Röm. 12,9).

Täglich begegnet uns geheuchelte Liebe – auf Bildschirmen, in der Werbung, im Kaufhaus. Selbst ehrlich gemeinte Liebe ist oft angefochten und vermischt. Ein junger Mann mag eine junge Frau aufrichtig wegen ihres Charakters lieben, findet aber ihren Körperbau wenig ansprechend, und so ringt er darum, sie doch von Herzen zu lieben. Eltern mögen bereit sein, alles für ihren Teenager zu geben, aber sein Verhalten frustriert sie zutiefst, und oft sind sie genervt und ihm gegenüber lieblos.

Gottes Liebe dagegen ist rein. Nichts in ihr widerspricht ihr selbst. Sie ist völlig authentisch, ehrlich, ungeteilt und aufrichtig. Selbst Seine Züchtigung kommt aus der Hand eines liebenden Vaters – nicht aus der Distanz eines bloßen Lehrers oder Herrschers (Hebr. 12,9).

Christen sind oft wie Sulamit im Hohenlied: Sie sehen sehr deutlich, wie wenig Anlass sie für Liebe geben – »Seht mich nicht an, weil ich so schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat!« (Hl. 1,6). Doch ihr Bräutigam ist nicht wie ein junger Mann, der versucht, seine Zuneigung mit dem Verstand zu begründen, während sich sein »Herz« dagegen sträubt. Nein, Sulamits Geliebter ist ganz und gar von Liebe zu ihr erfüllt. Er nennt sie die »Schönste unter den Frauen« (Hl. 1,8) und ruft aus: »Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön … Du hast mir das Herz geraubt … Wende deine Augen ab von mir, denn sie überwältigen mich!« (1,15; 4,9; 6,5). So liebt unser Bräutigam Seine Braut – auch wenn sie in ihrem eigenen Spiegelbild nur lauter Makel erkennt.

Viele unserer menschlichen Liebesbekundungen sind halbherzig, von Kompromissen geprägt oder von Gleichgültigkeit durchsetzt! Und doch liegt in Christus ein Schatz, der all dies übersteigt: »Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der rettet; Er wird sich über dich freuen mit Wonne, Er wird still sein in Seiner Liebe, Er wird über dich jubelnd frohlocken« (Zeph. 3,17).

Gottes Liebe ist gerechtfertigt

Menschliche Liebe ist oft von Sentimentalität und Emotion geprägt. Wir lieben etwas, weil es uns im Moment mitreißt, nicht unbedingt, weil es seinem Wesen nach wirklich so »liebenswürdig« wäre. Die Werbung zielt genau darauf: Impulsliebe, spontane Begeisterung, ein beeindruckendes Äußeres und eine sorgfältig inszenierte Illusion.

Schon früh lernen wir, dass solche Liebe uns häufig enttäuscht, weil sie nicht gerechtfertigt war. Das teure Spielzeug (500 €!), das wir unbedingt haben wollten, liegt nach drei Wochen achtlos in der Ecke, weil es doch weniger Freude bereitet, als wir dachten. Ähnliches erleben wir in Freundschaften: Anfangs sind wir begeistert, doch mit der Zeit entdecken die Macken und Schwächen des anderen, und die anfängliche Euphorie verfliegt.

Wir kennen es nicht anders: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, doch er verfliegt. Früher oder später merkt jede Liebe, dass ihre anfängliche Begeisterung zu stark, zu optimistisch, zu blauäugig, ja in ihrem Enthusiasmus übertrieben war – und damit letztlich nicht gerechtfertigt.

Genau solche Zweifel schleichen sich auch in die Beziehung mancher Christen zu Gott ein, wenn ihnen das Evangelium nicht klar vor Augen steht: Kann Gott mich jetzt noch lieben? Hat Er nicht längst genug von mir? Bin ich für Ihn nicht eine ständige Enttäuschung?

Vielen Christen ergeht es wie Jakob, als er seinem Bruder Esau wieder begegnen sollte. Aus Angst schickte er ihm Geschenke entgegen, um ihn zu besänftigen (1.Mo. 32). Doch dann heißt es: »Da lief ihm Esau entgegen, umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn« (33,4) – und lud ihn ein, zu ihm nach Seir in den Süden zu ziehen. Jakob jedoch traute den freundlichen Worten nicht und zog stattdessen nach Sukkot im Norden (V. 17).

Gott ist nicht wie Esau, und Christen sind nicht wie Jakob – und doch findet sich Jakobs Misstrauen in so manchem Herzen. Warum? Weil viele meinen, Gottes Liebe sei wie menschliche Liebe: anfangs überschwänglich, später jedoch abgekühlt, sentimental, und nicht mehr standhaft.

Doch Gott ist kein Mensch, und Seine Liebe ist nicht bloß sentimental. Sie wird nicht enttäuscht wie unsere – denn sie basiert nicht auf uns wankelmütigen Menschen, sondern auf dem Opfer, das wir Ihm »vorausgesandt« haben: Jesus Christus. Jakob hätte seinem Bruder Esau selbst die Reichtümer Ägyptens senden können und hätte dennoch gezweifelt, ob dieser ihm wirklich vergeben und ihn von Herzen lieben würde. Christen jedoch bringen Gott etwas unendlich Wertvolleres dar. Sie haben Christus, der »sich Selbst für uns gegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, zu einem lieblichen Geruch für Gott« (Eph. 5,2).

Das Evangelium für Christen

Es gibt wenige Wahrheiten über Gott, die für einen Sünder wahrhaftig eine »gute Botschaft« sind – und an erster Stelle steht die Gnade Gottes. Ebenso gibt es nur wenige Wahrheiten über die Gnade Gottes, die für einen Sünder wahrhaftig eine »gute Botschaft« sind – außer dem Umstand, dass Gottes Gnade radikal anders ist als die Gnade und Liebe, die uns in dieser Welt täglich begegnet.

Das Evangelium ist unser tägliches Brot (Mt. 4,4), und es muss täglich gegen die Lügen Satans und die trügerischen Vorbilder dieser Welt im Glauben behauptet werden. Möge das Gebet des Paulus für uns alle in Erfüllung gehen! Möge Gott durch Seinen Heiligen Geist Kraft zu solchen Predigten, Familienandachten, solcher Bibellese und zu solchen Zeiten des Nachsinnens und Gebets schenken, die das Evangelium der Liebe Gottes erforschen und lobpreisen. Mögen Lieder entstehen, Konferenzen gehalten, Bücher geschrieben und das Evangelium auf unseren Straßen verkündigt werden, das diese Liebe groß macht. Möge Gott uns schenken, dass wir gemeinsam mehr von der Breite, Länge, Höhe und Tiefe des Evangeliums erfassen – und die Liebe des Christus erkennen, die – gottlob! – so anders ist als alles, was wir kennen, und jede Erkenntnis übersteigt.

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Gottes unfassbare Liebe (Teil 2)

von Sam Derksen Lesezeit: 10 min