Welchen Vers aus dem Johannesevangelium hört man wohl am häufigsten? Schnell kommt einem da Johannes 3,16 in den Sinn: »Denn so [sehr] hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab …«
Oder können Worte aus dem Prolog dieses Evangeliums (Kap. 1,1-18) Anspruch auf diese Auszeichnung erheben, am häufigsten gehört zu werden? Schließlich werden sie Jahr für Jahr zur Weihnachtszeit gelesen.
Aber vielleicht ist die wahrscheinlichste Antwort Johannes 14,1: »Euer Herz erschrecke nicht! …« In den USA werden diese Worte bei fast jedem christlichen Trauergottesdienst gelesen.
Mit Hilfe dieser Bibelstelle kann man zwei Punkte verdeutlichen:
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- Wir hören und reflektieren diese Worte nur selten in ihrem ursprünglichen Kontext. Selbst regelmäßige Gemeindebesucher würden sich vermutlich mit einer Antwort schwer tun, wenn sie gefragt würden: »Erzähle mir mal, wann Jesus diese Worte in Johannes 14,1 gesagt hat und was kurz zuvor und direkt danach passiert ist.«
- Wir neigen dazu, diese Worte so zu hören und zu lesen, als ob sie direkt zu uns gesprochen worden seien.
Auf diese Weise gehen viele (wenn nicht gar die meisten) Christen vor, wenn sie sich einem Bibeltext nähern. Natürlich ist das, was Jesus damals sagte, auch für uns heute relevant. Aber man darf dabei nicht übersehen, dass diese Worte – wie auch alles andere, was Jesus damals im Obergemach sagte – zwar auch für uns gelten, aber eigentlich nur zu den Aposteln gesprochen wurden. Wir selbst waren schließlich nicht dabei.
Hier kommt also ein Grundprinzip des Bibelstudiums zum Tragen: Wir machen uns zunächst darüber Gedanken, was die Worte den damaligen Hörern mitgeteilt hatten; erst im Anschluss daran arbeiten wir mit Hilfe des Heiligen Geistes heraus, was die Worte für uns bedeuten.
Wenn wir so vorgehen, werden wir vielleicht feststellen, dass wir uns Fragen stellen, denen wir sonst keine Beachtung geschenkt hätten. Diese Fragen können uns jedoch wiederum helfen, tiefer in die Bedeutung des Textes einzudringen.
Beim Nachdenken über den ursprünglichen Kontext von Johannes 14,1 stellt sich beispielsweise die Frage, wie es sein kann, dass Jesus Seine Jünger aufforderte: »Euer Herz erschrecke nicht!« Verstößt das nicht gegen eine Grundregel der Seelsorge? Schließlich hatten die Jünger doch das Problem, dass sie bekümmert und aufgewühlt waren – und dies offensichtlich aus guten Gründen. Wenn Menschen, die voller Sorgen sind, sich selbst von ihren Sorgen befreien könnten, dann würden sie es doch tun. Rät Jesus ihnen folglich aus Verzweiflung, nicht zu erschrecken? Wusste Er es nicht besser?
Jesus war ein meisterhafter Seelsorger; im Kontext muss daher etwas zu finden sein, das uns zu verstehen hilft, welche Absicht Jesus mit Seiner Aufforderung verbindet.
Wenn wir Textpassagen in ihrem Kontext betrachten, entdecken wir auch eher bedeutsame Einzelaspekte. In unserem Abschnitt gibt es ein wichtiges Beispiel dafür: Johannes hatte uns kurz zuvor mitgeteilt, dass Jesus »im Geist erschüttert« war (Joh. 13,21; hier steht im Griechischen derselbe Ausdruck wie in Joh. 14,1). Jesus ist Selbst erschüttert und erschrocken und sagt Seinen Jüngern, sie sollten nicht erschrecken. Müsste Jesus das nicht erst einmal sich Selbst predigen? Ein zynischer Leser könnte an dieser Stelle sagen: »Arzt, heile dich Selbst!« (Lk. 4,23).
Klingt das nicht paradox? Das stimmt. Doch dieses Paradox gibt uns einen Hinweis, der uns die Aufforderung Jesu an Seine Jünger zu verstehen hilft. Es führt uns mit seiner eigenen Logik sogar zum Kern des Evangeliums. Weil Jesus erschüttert und bekümmert war, brauchen Seine Jünger – damals wie heute – nicht mehr bekümmert und erschrocken zu sein. Denn das, was Seine Bedrängnis verursachte – dass Er verraten, verhaftet, geschmäht, gekreuzigt, verlassen würde – ist ja, dass Er die Last unserer schwersten Nöte und Bedrängnisse trug: unsere Schuld, unsere Schande und den Tod, welcher »der Lohn der Sünde« ist (Röm. 6,23). Da Er weiß und versteht, wie es ist, bedrängt zu werden, kann Er mit uns mitfühlen. Weil Er Selbst erschüttert war, können auch unsere verzagten Herzen in Ihm Frieden finden.
Die eigentliche Stärke des Ratschlags, den Jesus gibt, liegt in der Art und Weise, wie Er erklärt, weshalb und wie die Herzen Seiner Jünger nicht zu erschrecken brauchen: Denn es gibt zwar Gründe, warum ihre Herzen erschraken, aber es gibt noch bedeutendere Gründe, warum sie sich nicht beunruhigen lassen mussten. Im weiteren Gesprächsverlauf wird Er dies noch näher erläutern, indem Er auf die Fragen von zwei besonders beunruhigten Jüngern eingeht.
Was ist also Jesu Ratschlag für ein beunruhigtes Herz? Er spricht hier nicht von belanglosen Verstimmungen, sondern von echten Turbulenzen. Jesus war im Geiste zutiefst aufgewühlt, und nun sind auch Seine Jünger zutiefst aufgewühlt. Für sie bricht eine Welt zusammen. Sie fühlen sich überfordert und haben keine Kontrolle über die Situation. Wie ist es unter diesen Umständen nur möglich, ein unbesorgtes Herz zu haben?! Und wenn wir diese Aufforderung auf uns anwenden – ist es für einen Christen auch heute möglich, eine solch himmlische Gelassenheit zu erleben?
Ratschläge für verzagte Herzen
Was ist das Problem, wenn das Herz beunruhigt ist? Es ist folgendes: Die Umstände, die uns bedrohen, scheinen größer und stärker zu sein, als dass wir sie mit unseren Ressourcen bewältigen könnten. Wir gleichen den Jüngern, die auf dem See Genezareth mit ihrem Boot in einen Sturm geraten sind. Unsere Fähigkeiten und Erfahrungen reichen nicht aus, um angemessen mit der Situation umzugehen.
Hast du auch schon mal gedacht, dass es damals nicht gerade sensibel von Jesus gewesen sei, Seine Jünger zu fragen: »Was seid ihr so furchtsam?« Schließlich hatten sie allen Grund dazu, sich zu fürchten – sie standen kurz vor dem Ertrinken! Doch Jesus diagnostiziert dabei auf behutsame Weise ihr eigentliches Problem. Er fragt nämlich weiter: »Wie, habt ihr keinen Glauben?« (Mk. 4,40). Mit anderen Worten: Im Boot standen ihnen durchaus greifbare Ressourcen zur Verfügung. Da war doch eine Person, die stärker war als der Wind und die Wellen, und sie hatten Ihn ignoriert – oder genauer gesagt: Sie hatten Ihm nicht vertraut.
Stell dir vor, du steigst in ein Flugzeug. Das Gepäck wird in den Frachtraum geladen – nehmen wir einmal an, 20 Kilogramm pro Gepäckstück bei ca. 200 Passagieren in der Economy-Klasse. Die Passagiere kommen an Bord, jeder von ihnen bringt mehrere Kilo auf die Waage. Du schaust aus dem Fenster auf die riesigen Triebwerke. Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, wie es funktioniert, dass Flugzeuge überhaupt vom Boden abheben? Das liegt nicht daran, dass sie leichter wären als die Luft oder dass das Gesetz der Schwerkraft nicht mehr gelten würde. Nein, es liegt daran, dass die Gesetze der Aerodynamik zum Tragen kommen: Auftrieb und Schubkraft überwinden Gewicht und Widerstand. Ähnliches gilt auch für uns Christen. Auf uns lasten Prüfungen und Schwierigkeiten, Unsicherheiten und tiefgehender Kummer. Das Christsein macht uns nicht immun gegen solche Beschwernisse. Aber ein anderes Gesetz kommt zum Tragen: In Jesus Christus haben wir die Ressourcen, um sie alle zu überwinden.
Paulus macht genau das deutlich: »Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder« – nicht aus eigener Kraft, sondern »durch Den, der uns geliebt hat« (Röm. 8,37; ELB).
Jesu Zurechtweisung der Jünger bedeutete nicht etwa: »Ihr törichten Jünger, als erfahrene Fischer hättet ihr doch auf eure Erfahrung vertrauen können!« Nein, Seine Kritik implizierte: »Ihr hattet doch den Sohn Gottes im Boot, den Schöpfer Galiläas und den Herrscher über Wind und Wellen; aber ihr habt Mir nicht vertraut.« Ihre Umstände machten sie blind für die Gegenwart ihres Retters. Statt von Glauben erfüllt zu sein, waren sie voller Angst.
Glauben haben
Allzu oft denken wir, dass der Glaube etwas Passives sei, vielleicht weil wir davon sprechen, Christus »aufzunehmen«. Der Glaube hat aber auch aktive Dimensionen. Unsere weisen geistlichen Vorfahren sprachen deshalb vom »tätigen Glauben«, d. h. vom Ausüben des Glaubens, vom Festhalten an den Verheißungen Gottes, indem wir unseren Blick auf Christus ausrichten und auf alles, was Er ist (vgl. Hebr. 3,1; 12,2).
Beachte also den Rat, den Jesus in Johannes 14,1 den beunruhigten Herzen gibt: »Glaubt an Gott und glaubt an Mich!«
»Euer Herz erschrecke nicht!« Erstens, weil Gott eure Sicherheit ist: »Der Name des HERRN ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dorthin und ist in Sicherheit« (Spr. 18,10); »Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, ein Helfer, bewährt in Nöten« (Ps. 46,2). Kein Wunder, dass Martin Luther immer zu seinem Freund Philipp Melanchthon sagte, wenn sie entmutigt waren: »Komm, Philipp, lass uns den 46. Psalm singen!« Folglich überrascht es auch nicht, dass das Lied »Ein’ feste Burg ist unser Gott«, in dem Luther diesen Psalm verarbeitet hat, zur Hymne der Reformation wurde.
Die Worte Jesu an Seine Jünger enthalten eine gewisse Logik: »Glaubt an Gott und glaubt an Mich!« Gott wird ihre Zuflucht sein – das wissen sie bereits; sie kennen Psalm 46 gewiss von Kindheit an. Nun aber sind sie schon seit drei Jahren bei Jesus. Sie haben allen Grund, Ihm ebenfalls zu vertrauen und ihre Sicherheit in Ihm zu finden. Sie haben die mächtigen Taten gesehen, die ihn als den verheißenen Messias auswiesen. Sie haben gehört, wie Er von Seiner einzigartigen Beziehung zu Seinem Vater im Himmel sprach. So wie Er in die Welt gekommen ist, um sie zu retten (vgl. Joh. 3,16), so verlässt Er nun die Welt, um ihnen in der Gegenwart des Vaters »eine Stätte zu bereiten«: »Im Haus Meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn nicht, so hätte Ich es euch gesagt. Ich gehe hin, um euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn Ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme Ich wieder und werde euch zu Mir nehmen, damit auch ihr seid, wo Ich bin« (Joh. 14,2-3).
Achte hier auf die kraftvolle Logik unseres Herrn, denn die Stärke des Glaubens liegt darin, sie zu erfassen:
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- Jesu Handeln: Ich verlasse euch.
- Jesu Erklärung: Ich gehe hin, um euch eine Stätte im Haus Meines Vaters zu bereiten.
- Jesu Schlussfolgerung: Ich werde also zu euch zurückkehren, um euch nach Hause zu holen.
Erkennst du die Logik? Was die Theologen als Christologie bezeichnen (wer Jesus ist und was Er tut), ist die Grundlage für die Soteriologie, d. h. die Lehre vom Heil (wie Sein Werk in rettender Weise auf unser Leben angewandt wird). Es lohnt sich, diesen Aspekt zu betonen: Die Kraft des Glaubens liegt nicht in uns selbst oder gar im Glauben selbst, sondern in Christus und der Logik des Evangeliums. Und selbst ein schwacher Glaube hat als Objekt, auf das er ausgerichtet ist, diesen starken Christus.
Welch eine Geduld und Gelassenheit zeigt unser Herr hier im Kontext überwältigender Nöte! Seine Liebe zu Seinen Jüngern ist so groß, dass Er sich offenbar mehr Gedanken um ihre Not macht als um Seine eigene Not. Das ist der Grund, warum die Jünger – und wir mit ihnen – Ihm uneingeschränkt und vorbehaltlos vertrauen können.
Zuvor erschienen im Tabletalk Magazine.